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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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versenkt den Blick aufmerksam in sein Hutinneres, als habe er sich dort einen Zettel mit Notizen zurechtgelegt. Doch, bei Gott, wie überflüssig wäre diese Vorsorge. Zehntausend solcher Notizen durchschwirren bei Tag und Nacht seinen armen Kopf, so daß er fast keinen Schlaf mehr findet. Er will sich jetzt nur sammeln, um kurz und methodisch vorzugehen:
    »Wir müssen uns vor allem klar machen, was in der Türkei geschieht und schon geschehen ist: Eine Christenverfolgung von solchem Ausmaß, daß sie sich mit den berühmten Verfolgungen unter Nero und Diokletian nicht im entferntesten vergleichen läßt. Und außerdem das allergrößte Verbrechen der bisherigen Weltgeschichte, was schon einiges heißen will, wie Sie mir zugeben werden …«
    In die hellen Augen des Beamten tritt eine leichte Neugier. Er schweigt, während Lepsius mit wohlabgewogenen Worten sich Schritt für Schritt weiter tastet. Seit seiner Niederlage durch Enver Pascha hat er ohne Zweifel so manches für den Umgang mit Politikern zugelernt:
    »Wir dürfen in den Armeniern nicht irgend ein halbwildes Ostvolk sehen … Es sind kultivierte gebildete Menschen mit einer Nervenverfeinerung, die man, ich sage es offen, bei uns in Europa nur selten antrifft …«
    Kein Zucken in dem schmalen Gesicht des Geheimrats läßt darauf schließen, daß er diese Rangbestimmung des armenischen »Händlervolkes« vielleicht für übertrieben hält.
    »Es geht hier«, fährt Johannes Lepsius fort, »keineswegs um eine innerpolitische Frage der Türkei. Nicht einmal die Ausrottung eines kleinen Zwergnegerstammes ist eine innerpolitische Frage der Ausrotter und Ausgerotteten. Umsoweniger können wir Deutschen uns in eine bedauernde oder verzweifelte Neutralität retten. Das feindliche Ausland macht uns verantwortlich.«
    Der Geheimrat schiebt mit einem Ruck die Aktenstöße von sich, als brauche er Luft:
    »Es gehört zur tiefen Tragik der deutschen Kriegführung, daß wir, so reinen Gewissens wir auch sind, mit fremder Blutschuld belastet werden …«
    »Alles auf der Welt ist zunächst eine moralische und viel später erst eine politische Frage.«
    Der Geheimrat nickt Beifall:
    »Ausgezeichnet, Herr Pastor, auch ich vertrete immer die Ansicht, daß man bei jeder politischen Entschließung zuerst das Moralische kalkulieren muß.«
    Lepsius wittert Erfolg. Jetzt heißt es, zuzupacken:
    »Ich sitze hier nicht als einzelner armer Mensch bei Ihnen, Herr Geheimrat. Es ist keine Anmaßung, wenn ich sage, daß ich im Namen der ganzen deutschen Christenheit gekommen bin, der protestantischen, ja auch der katholischen. Ich handle und spreche in Einigkeit mit bedeutenden Männern wie Harnack, Deißmann, Dibelius …«
    Der Geheimrat bestätigt das Gewicht dieser Namen durch einen anerkennenden Blick. Johannes Lepsius aber gerät in seinen alten Schwung, der ihm schon oft gefährlich geworden ist:
    »Der deutsche Christ ist nicht mehr gewillt, diesem Verbrechen am Christentum tatenlos zuzusehen. Sein Gewissen erträgt es nicht, durch Lauheit länger mitschuldig zu sein. Die Siegeshoffnung des Reiches steht und fällt mit der Freudigkeit des deutschen Christen. Ich für meine Person schäme mich bis zum Ekel, daß die feindliche Presse spaltenlang über die Deportation berichtet, während das deutsche Volk in den deutschen Zeitungen mit den lügnerischen Kommuniqués Envers abgespeist wird und sonst kein Wort erfährt. Verdienen wir es nicht, die Wahrheit über das Schicksal unserer Glaubensgenossen zu hören? Diesem unwürdigen Zustand muß ein Ende gemacht werden.«
    Der Geheimrat, über den anklägerischen Ton des Pastors ein wenig erstaunt, legt die Finger aneinander und bemerkt unschuldig:
    »Aber die Zensur! Die Zensur könnte das niemals gestatten. Sie ahnen ja gar nicht, wie verwickelt diese Dinge sind, Herr Lepsius.«
    »Das primitivste Recht des deutschen Volkes ist es, nicht betrogen zu werden.«
    Der Geheimrat lächelt nachsichtig: »Was würde die Folge dieses Pressefeldzuges sein? Eine schwere Belastung der deutschen Nerven und des türkischen Bündnisses.«
    »Dieses Bündnis darf uns nicht vor der Geschichte zu Hehlern machen. Wir wünschen daher, daß unsre Regierung schleunig eine Tat setze. Fordern Sie doch in Stambul mit dem allergrößten Nachdruck, daß eine neutrale Kommission, Amerikaner, Schweizer, Holländer, Skandinavier, nach Anatolien und Syrien eingelassen werde, um die Vorgänge zu untersuchen!«
    »Sie kennen die jungtürkischen Machthaber zu

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