Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
tragen den weißen Turban, selbst ein Infanteriehauptmann, der sich merkwürdigerweise unter diesen Gestalten befindet. Lepsius unterscheidet ferner einen kleinen spindeldürren Alten, der eine nervöse Krankheit haben muß, da sein spitzbärtiges Gesicht dann und wann von Zuckungen befallen wird. Einen auffallend schönen Mann mit weichem, braunem Bart, der in eine hemdartige Kutte gekleidet ist, nennt Nezimi »den Sohn des Scheichs«. Neben diesem jünglinghaften Mann, durch dessen Materie es silbern zu schimmern scheint, hockt auf gekreuzten Beinen ein fünfjähriger Knabe, der Sohn des Sohnes, ebenso weiß gewandet wie sein Vater. Lepsius aber richtet sein Augenmerk vor allem auf einen Menschen, der sich durch sein Aussehen und seine Haltung als mächtigste Persönlichkeit unter den Anwesenden offenbart. So stellt sich der Pastor die großen Kalifen vor, Bajazid, Mahmud den Zweiten, vielleicht den Propheten selbst. Ein durch Fanatismus verzehrtes Gesicht, dessen blauschwarzer Bart beinahe bis unter die Augenhöhlen vordringt. Der starre Blick, der an nichts hängen bleibt, kennt keine Gnade weder für den Feind noch auch für den Freund. »Das ist der Türbedar von Brussa«, hört Lepsius und bekommt die Aufklärung, daß man mit diesem Titel ein sehr hohes symbolisches Amt bezeichne, nämlich den Wächter über die Grabstätten der Sultane und Heiligen. Der Mann sei überdies ein großer Gelehrter, nicht nur in der koranischen, sondern auch in einigen modernen Wissenschaften. Auch der kleine alte Herr, der so still ihm gegenübersitze, ja, ganz recht, jener mit den weißen Händen, die den Bernsteinkranz drehen, bekleide ein hohes symbolisches Amt: »Verwalter der Stammtafel des Propheten.«
    »Leben diese Männer immer in dem Tekkeh?«
    »Nein, es ist ein großer und glücklicher Zufall, daß sie heute den Scheich besuchen. Der alte Herr dort, der Verwalter der Stammtafel, kommt von sehr weit her, aus Syrien, von Antiochia, glaub ich. Er ist der älteste Freund unsres Scheichs, wissen Sie. Agha Rifaat Bereket heißt er.«
    »Agha Rifaat Bereket«, wiederholt Lepsius zerstreut, als sei ihm dieser Name nicht ganz fremd. Er hat aber weder für den Agha Augen noch auch für die dreißig oder fünfunddreißig anderen Personen, die erwartungsvoll den Saal durchmurmeln, sondern nur für den stolzen Türbedar. Deshalb bemerkt er den Eintritt des Scheichs Achmed erst in dem Augenblick, da sich dieser auf seinen Sitz niederläßt. Nezimi Bey hat recht gehabt. Äußerlich sieht man diesem geistlichen Ordenshaupt, das wohl über Hunderttausende treue Seelen gebietet, nicht viel von seiner Bedeutung und seinen Kräften an. Er ist ein korpulenter Weißbart, dessen Züge von überlegener Freundlichkeit sprechen und eine praktische Beurteilung der Erdendinge nicht verhehlen.
    Alles ist aufgesprungen und hat sich geradezu mit Gier auf den alten Scheich gestürzt, um seine Hand zu küssen. Erst als sich die andern mit diesem Ehrfurchts- und Liebesbeweis gesättigt haben, neigt sich der Türbedar als letzter über die weiche dicke Rechte Achmeds.
    Die Zikr-Ekstase, deren Zeuge er nun wird, läßt Johannes Lepsius nicht nur kalt, sondern erfüllt ihn sogar mit einem dunkeln, schwer beschreiblichen Unbehagen. Die Zeremonie beginnt damit, daß sich der schöne Sohn des Scheichs mit zehn anderen jungen Leuten, die gleich ihm weiße hemdartige Kutten tragen, an die westliche Wand des Saales in eine Reihe stellt. Den rechten Flügel dieser Reihe bildet das kleine Kind, dessen Gesichtchen von altklugem Ernste strahlt. Irgendwoher dringt eine einförmig näselnde Schalmeienmusik. Vor einem goldgeschnitzten Koranständer steht ein Mann mit geschlossenen Augen, der in halblauten unangenehmen Falsettönen eine Sure psalmodiert. Der alte Scheich Achmed gibt ein kaum sichtbares Zeichen mit der Hand. Die Schalmei und Litanei verstummt. Der Sohn wirft den Kopflauschend zurück wie einer, der einen leisen Regen mit seinem Gesicht auffangen will. Aus seiner Kehle aber steigen Laute auf, zittrig erstickt, als sei es Glücks zuviel, die Silben des unfaßbaren Verses aussprechen zu dürfen, in denen die ganze Kraft des geoffenbarten Buches gesammelt ist: »Lailah–ila–’llah.« »Es ist kein Gott außer Gott.« Nun haben auch die anderen Männer den Kopf zurückgeworfen und die zweimal drei Silben des Bekenntnisses vereinigen sich zu einem wundersam stöhnenden Summen. Damit ist wie bei einem Musikstück das Thema angeschlagen, das nun

Weitere Kostenlose Bücher