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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Er sieht in ihm nur den fanatischen Feind des Christentums. Da es aber eine der trübsten menschlichen Schwächen ist, denjenigen, welchen man aus seinem innersten Inneren heraus verstehen müßte, den Feind, am allerwenigsten zu kennen, so hat auch der Pastor kaum eine blasse Vorstellung von der moslemischen Glaubenswelt. Er nennt die Mewlewi-Derwische nur, weil dieser sehr bekannte Name ihm geläufig ist. Doktor Nezimi macht eine fast wegwerfende Geste:
    »Nein, nein! Scheich Achmed, unser Meister, ist das Haupt eines Ordens, den das Volk ›Die Herzensdiebe‹ nennt.«
    »Ein komischer Ordenstitel. Warum die ›Herzensdiebe‹?«
    »Das werden Sie später selbst sehen …«
    Während des Ganges läßt sich aber der Führer doch noch zu einigen Erklärungen herbei. Er unterrichtet den Deutschen darüber, daß der Strom der Mohammed-Religion sich in zwei gewaltige Arme geteilt habe, in das Schaariat und das Tarikaat. Entspreche das Schaariat ziemlich genau dem Begriff der katholischen Weltpriesterschaft, so werde das Tarikaat durch den Vergleich mit dem Mönchstum verfälscht. Derwisch sein, heiße nicht der Welt entsagen und sich fürs ganze Leben in ein Tekkeh zurückziehen. Derwisch könne jeder werden und sein, der gewisse Bedingungen erfülle, er brauche sein Berufs- und Familienleben darum nicht aufzugeben: der Großwesir ebenso wie der Schneider, Kupferschmied, Bankbeamte oder Offizier. So seien denn auch die verschiedensten Bruderschaften über das ganze Land verbreitet und die Brüder erkennen einander überall »aus dem Gefühl«, ohne einander zu kennen . Johannes Lepsius fragt mit zweckhafter Nachdenklichkeit:
    »Demnach müssen diese Derwisch-Orden zahlenmäßig eine große Macht vorstellen.«
    »Nur zahlenmäßig, mein Herr Doktor, das können Sie mir glauben.«
    »Und woraus besteht das Gottesleben dieser Leute?«
    »Bei euch nennt man das, wie man mir gesagt hat, Exerzitien. Aber wahrscheinlich ist auch dieser Ausdruck falsch. Wir versammeln uns von Zeit zu Zeit. Es werden Übungen abgehalten. Gebetsübungen! ›Zikr‹ nennt man das. Jeder muß auch einmal oder mehrere Male im Leben Dienst in dem Tekkeh tun und dort längere Zeit leben. Die Hauptsache aber ist, daß wir unserm Lehrer und Meister aus der Fülle des Herzens heraus gehorsam sind.«
    »Ihr Lehrer und Meister ist der Scheich Achmed, Professor …«
    Obgleich Lepsius nicht offen fragt, wer dieser Scheich Achmed eigentlich sei, gibt Nezimi doch Antwort:
    »Er ist ein Weli. Ihr würdet sagen ein Heiliger und diese Übersetzung ist falsch. Er hat durch sein Leben, das höher steht als das Leben der Menschen, Kräfte in sich entwickelt. Kennen Sie den französischen Ausdruck: Initiation? Und das Herrlichste an ihm, Sie werden es sehen, er ist ein ganz einfacher Mensch.«
    Sie bleiben vor einer hohen Mauer stehn. Die Wipfel von Zypressen und Feigenbäumen, überhängender Goldlack und Glyzinen verraten einen Garten. Nezimi Bey klopft mit seinem Stock an die wurmstichige Pforte in dieser Mauer. Man muß lange warten. Dann öffnet ein alter Mann mit einem schweren Körper und milden liebevollen Augen. Das dunkle Wunder des Gartens tut sich auf. Eine vielhundertjährige Zeder beherrscht alles. Von zwei mächtigen Ästen hängen die rostigen Stücke einer schweren Kette herab. Nezimi erzählt dem Pastor, daß vor undenklichen Zeiten die Zeder in ihrer Jugend gefesselt war, bis die innere Kraft des Wachstums die Eisenkette zersprengte. Ein Sinnbild des Derwischlebens. In die aus dem Stadtlärm sonderbar ausgesparte Stille tönt ein Brunnenstrahl. Und dies wieder ist ein ergreifendes Sinnbild für die türkische Wasser-Verehrung. Der Garten wird rechts von einem dunkeln unheimlichen Haus und links von einem hellen und guten begrenzt. Sie treten in das gute Holzhaus ein, nachdem sie die Schuhe abgelegt haben. Nezimi führt den Fremden über eine kleine finstere Treppe in eine Art von Loge, die auf den großen Saal des Tekkeh hinausblickt, der mit seinen schlanken Holzpilastern und den in der Höhe filigranhaft durchbrochenen Wänden den Eindruck eines umfänglichen Pavillons erweckt. Die Holzdiele des Raumes bedecken die schönsten Teppiche. In die östliche Wand, Mekka zugekehrt, ist eine Thron-Nische mit einer erhöhten Matte eingebaut. Auf den Stufen zu beiden Seiten dieses Hochsitzes hocken einige Männer. Der Arzt bezeichnet sie als »Kalifen«, als Stellvertreter und Beauftragte des Scheichs, die seinem Herzen besonders nahe stehen. Alle

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