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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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wissen, wer du bist und was dich zu uns führt. Ich zweifle nicht, daß du uns verstehen wirst, so wie wir dich zu verstehen hoffen. Vielleicht hat dir unser Bruder Nezimi schon berichtet, daß wir hier weniger uns auf Worte verlassen als auf die Berührung von Herz zu Herz. So laß uns denn prüfen, wie es mit unsern beiden Herzen steht.«
    Der Rock des Deutschen ist zugeknöpft. Scheich Achmed öffnet mit seiner eigenen weißen Hand diese Knöpfe. Er lächelt, wie um Entschuldigung bittend:
    »Wir wollen uns näher kommen.«
    Johannes Lepsius spricht und versteht gut türkisch und recht gut arabisch. Scheich Achmed aber bedient sich einer schwierigen Mischung beider Sprachen, weshalb er für besonders heikle Wendungen Nezimi zum Dolmetsch bestimmt. Der Arzt übersetzt:
    »Es gibt ein zwiefaches Herz. Das fleischliche und das geheime himmlische Herz, das jenes umschließt, so wie der Duft die Rose einhüllt. Dieses zweite Herz verbindet uns mit Gott und mit den Menschen. Öffne es bitte!«
    Der schwere Leib des vielleicht Achtzigjährigen neigt sich aufmerksam gegen den Pastor. Eine kleine Gebärde bedeutet, er möge die Augen schließen gleich ihm. Über Johannes Lepsius kommt eine gewisse Ruhe. Der verzehrende Durst, der ihn soeben noch quälte, weicht von ihm. Er benützt die Zeit, sich hinter seinen geschlossenen Lidern zu sammeln und jene Gründe zurechtzulegen, mit denen er für die Armenier kämpfen will. Gott hat ihn auf wunderbare Weise hierhergeführt, wo er vielleicht ganz unerwartet Bundesgenossen findet. Der Wunsch Monsignore Sawens, nicht Deutsche und Neutrale, sondern Türken selbst möchten die Mittler sein, dieser absurde Wunsch, nun hat er einen Schein von Erfüllbarkeit bekommen. Als Lepsius die Augen wieder aufschlägt, erscheint ihm das Gesicht des alten Scheichs wie in warmes Sonnenlicht getaucht. Dieser läßt über das Ergebnis der Herzprobe nichts verlauten, sondern bittet den Pastor, er möge sagen, womit man ihm dienlich sein könne. Das große Gespräch beginnt.
    Johannes Lepsius
(anfangs findet er nur langsam und steif die türkischen Worte. Er sieht auch den Doktor Nezimi Bey öfters hilfesuchend an, damit er ihm mit dem entsprechenden Ausdruck beispringe):
    »Durch die große Güte von Scheich Achmed Effendi bin ich hier in diesem ehrwürdigen Tekkeh als Christ und Fremder … Ich durfte sogar euren religiösen Übungen beiwohnen. Die Inbrunst und Innigkeit eures Strebens zu Gott hat mein Herz mit Freude erfüllt. Wenn ich als unwissender Ausländer den innersten Sinn eurer heiligen Bräuche auch nicht verstehen kann, so fühle ich doch eure große Frömmigkeit … Um so schrecklicher aber scheint mir, angesichts dieser Frömmigkeit und Religiosität, was in eurem Vaterland geschieht und geschehen darf …«
    Der junge Scheich
(holt sich mit einem fragenden Augenaufschlag von seinem Vater die Erlaubnis zu sprechen):
    »Wir wissen, daß du schon seit vielen Jahren ein warmer Freund der ermeni millet bist …«
    Johannes Lepsius:
»Ich bin mehr als nur ihr Freund. Ich habe der ermeni millet mein ganzes Leben und meine ganzen Kräfte gewidmet.«
    Der junge Scheich:
»Und nun willst du uns wegen dieser Vorgänge anklagen?«
    Johannes Lepsius:
»Ich bin ein Fremder. Ein Fremder hat nie und nirgends das Recht, anzuklagen. Ich bin nur hier, um zu klagen über das Geschehene, und euren Rat und eure Hilfe zu erbitten.«
    Der junge Scheich
(mit einer deutlichen Hartnäckigkeit, die sich nicht durch feierliche Worte beruhigen läßt):
    »Und dennoch gibst du uns Osmanen insgesamt die Schuld an dem, was geschieht.«
    Johannes Lepsius:
»Ein Volk besteht aus vielen Teilen. Aus der Regierung und ihren Organen. Aus den Klassen, die mit der Regierung gehen, und aus der Opposition.«
    Der junge Scheich:
»Und welchen von diesen Teilen machst du verantwortlich?«
    Johannes Lepsius:
»Ich kenne eure Verhältnisse seit zwanzig Jahren gut. Auch im Innern. Mit den Häuptern eurer Regierung habe ich verhandelt. Gott helfe mir, doch ich muß sagen, sie tragen allein die volle Schuld am Untergang eines unschuldigen Volkes.«
    Der Türbedar
(hebt seinen verzehrten Fanatikerkopf mit den erbarmungslosen Augen. Sein Wesen und seine Stimme beherrscht sogleich den Raum):
    »Wer aber ist schuldig an der Regierung?«
    Johannes Lepsius:
»Deine Frage verstehe ich nicht.«
    Der Türbedar:
»So will ich dir eine andere stellen. Haben Osmanen und Armenier immer in Unfrieden gelebt? Oder hat es eine Zeit friedlichen

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