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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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entwickelt wird. Die Gestalt des Sohnes gerät zunächst in eine leichte eckige Schwingung. Während das La–ilah–ila–’llah einen entschiedenen Tonfall annimmt, neigt er seinen Oberkörper in die vier Richtungen des Weltraumes, vorwärts, rückwärts, nach rechts, nach links. Diese viertaktige Schwingung geht auf die anderen über, indem sie sich allmählich steigert. Es herrscht aber durchaus keine Symmetrie der Bewegung wie etwa beim Exerzieren oder beim Ballett. Im Gegenteil! Jeder überläßt sich seinem eigenen Gesetz. Jedes Ich dieser Gemeinschaft scheint in der leidenschaftlichen Anrufung seines Gottes mit sich allein zu sein. Dadurch aber entsteht eine vielfältigere und höhere Symmetrie als sie der mechanische Gleichtakt je bewirken kann, die Symmetrie eines sturmgeschüttelten Waldes, die Symmetrie einer erregten Meeresbrandung. Die völlige Freiheit und Einsamkeit des Ichs zu seinem Gott ermöglicht erst eine organische Gemeinschaft. Der alte Scheich, seine Kalifen und die übrigen Anwesenden nehmen an der Zikr-Übung mit leicht begleitenden Bewegungen teil. Der Knabe des jungen Scheichs neigt mit verzweifeltem Ernst seinen kleinen Körper nach allen Seiten. Manchmal kann man sein rührendes Kinderstimmchen aus dem allgemeinen Schwall des »La–ilah« piepen hören. Nach zwölf Minuten etwa sind die Körperschwingungen der Derwische fast rechtwinklig und die Rufungen zu einem ungegliedert heiseren Gebrülle geworden. Wieder ein knappes Zeichen des alten Scheichs. Die Zeremonie bricht jäh ab. In die Herzen der Teilnehmer und der Zuschauer aber scheint eine überschwengliche Freude, eine innerlichste Glücksbefriedigung eingezogen zu sein. Die Gesichter verklärt ein erschöpftes Lächeln. Die Männer umarmen einander. Johannes Lepsius muß an die altchristliche Agape denken. Aber wie? Diese Liebesfeier dort unten kommt ja nicht aus dem Geiste, sondern aus wilden Verrenkungen des Körpers. Er versteht sie nicht. Inzwischen sind ein paar neue Menschen durch eine kleine Tür in den Saal getreten. Sie tragen Wasserkrüge, Schüsseln mit Speisen, ja sogar Kleidungsstücke vor Scheich Achmed, der über diese Dinge mehrmals hinhaucht. Nun haben sie Heilkraft gewonnen. Nach einer Pause wird dann der Zikr von neuem und auf einer gesteigerten Stufe aufgenommen. Die heilige Vierzahl herrscht. Es finden daher vier Ekstasen statt, jedesmal durch eine Pause unterbrochen. Die Gewalt und das Tempo der letzten ist von solcher beinahe unerträglichen Wildheit, daß Johannes Lepsius zeitweilig die Augen schließt, weil ihm seekrank zumute ist. Als dieser letzte Zikr seinem Höhepunkt entgegengeht, springt plötzlich der spindeldürre Greis mit den Gesichtszuckungen von den Stufen in den Raum hinab und beginnt sich wie ein toller Kreisel um sich selbst zu drehen, bis er in einem epileptischen Krampf zusammenbricht. Der Pastor wendet sich nach dem Arzt um, der hinter ihm sitzt. Wird Nezimi nicht hinabeilen, um dem Epileptiker zu helfen? Doch der elegante Mann, der an der Sorbonne studiert hat, scheint selbst nicht mehr bei Sinnen zu sein. Sein Oberkörper kreist. Die Augen sind ertrunken. Und zwischen den Lippen unter dem englischen Schnurrbärtchen lallt er nun auch das lang zurückgedrängte »La–ilah–ila–’llah« hervor. Das Unbehagen des Pastors erreicht seinen Tiefpunkt. Doch er fühlt nicht nur einen Widerwillen gegen das, was ihn so fremd barbarisch anmutet, sondern zugleich auch befangene Scham darüber, daß er diesem gottestrunkenen Vorgang dort unten mit seiner westlichen Seele nicht gewachsen ist.
     
    Diese tiefe Befangenheit hält auch noch an, als er in das Innerste dieser wildfremden Welt, in das Audienzzimmer des Scheichs tritt. Damals, als er sich Enver Pascha gegenüberfand, war er nicht beklommener gewesen als jetzt. Der Scheich Achmed jedoch empfängt ihn mit großer Freundlichkeit. Er geht ihm und Nezimi Bey einige Schritte entgegen. In dem geräumigen Zimmer haben sich von den Kalifen des Scheichs der Türbedar aus Brussa, Agha Rifaat Bereket, der junge Scheich und der Infanteriehauptmann eingefunden. Es gibt keine anderen Sitzgelegenheiten als niedrige Diwans, die an die Wände geschoben sind. Scheich Achmed bietet dem Pastor einen Platz dicht an seiner Seite an. Johannes Lepsius muß sich wie die anderen auf seine gekreuzten Beine niederlassen. Die Augen des alten Achmed, in denen außer der klarsten Weltklugheit noch eine unerklärliche Windstille haust, wenden sich zu dem Gast:
    »Wir

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