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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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öfters ins Gespräch. Drei- oder viermal nehmen sie die Mahlzeit an demselben Tisch ein. Lepsius ist äußerst vorsichtig und zurückhaltend; muß es sein. Der andre aber ist durchaus nicht vorsichtig und zurückhaltend. Als er seinen Haß gegen die herrschende politische Richtung, gegen die Diktatoren Enver und Talaat unverhohlen zu erkennen gibt, erschrickt der Deutsche und verstummt. Sollte man ihm einen Lockspitzel beigesellt haben? Wenn er aber die vornehme Gestalt des kultivierten Nezimi ansieht, wenn er seine Stellung, seine Ausdrucksweise, seine überraschende Sprachenkenntnis bedenkt, so erscheint der Argwohn lächerlich. Über agents provocateurs von solchem Rang kann Enver unmöglich gebieten. Dennoch ist Lepsius weise genug, sich nicht hervorlocken zu lassen. Er leugnet nicht, daß er als christlicher Geistlicher das Los seiner armenischen Glaubensgenossen zu mildern suche, übt aber keine Kritik und beschränkt sich im übrigen auf abwartendes Zuhören. Obgleich Nezimi kein ausgesprochener Freund der Armenier zu sein scheint, tobt er doch gegen die Verschickungspolitik des Komitees:
    »An den armenischen Leichenfeldern wird die Türkei zugrunde gehn.«
    Lepsius zuckt bei seinen Worten mit keiner Miene:
    »Hinter Enver und Talaat steht doch die große Mehrheit der Nation.«
    »Wie? Die große Mehrheit der Nation?« fährt Nezimi auf. »Ihr Ausländer wißt ja gar nicht, wie klein diese Partei in Wirklichkeit ist, wie moralisch klein vor allem. Sie besteht aus dem schäbigsten Parvenugesindel. Wenn sich diese Leute etwas auf ihre osmanische Rasse einbilden, so ist das die größte Unverschämtheit, die es gibt. Diese Reinblütigen kommen zumeist aus dem mazedonischen Mischtopf, in dem das Rassenragout des ganzen Balkans schwimmt.«
    »Das ist eine alte Sache, Professor. Auf Rasse berufen sich meist nur diejenigen, die etwas Ähnliches nötig hätten.«
    Nezimi sieht Lepsius mit traurigen Augen an:
    »Es ist ein Unglück, daß ein Mann wie Sie, der unsere Verhältnisse so genau studiert hat, doch keine Ahnung vom wahren türkischen Wesen besitzt. Wissen Sie, daß die wahren Türken die armenischen Verschickungen noch heftiger verwerfen als Sie?«
    Johannes Lepsius horcht gespannt auf:
    »Und wer sind diese wahren Türken, wenn ich fragen darf, Professor?«
    »Alle, die ihre Religion noch nicht verloren haben«, sagt Nezimi, läßt sich aber auf eine nähere Erklärung nicht ein. Am Abend desselben Tages klopft er an die Tür des Pastors. Er macht einen sonderbar erregten Eindruck:
    »Ich werde Sie, wenn Sie einverstanden sind, morgen in das Tekkeh des Scheichs Achmed einführen. Es ist ein großes Geschenk, das Sie damit bekommen. Und dann. Sie werden wegen der Armenier offen reden können und vielleicht auch etwas ausrichten.« Und er wiederholt noch einmal: »Es ist ein Geschenk für Sie.«
    Gleich nach Tisch holt Nezimi den Pastor ab, wie sie es vereinbart haben. Der weite Weg wird größtenteils zu Fuß zurückgelegt. Heute ist die Sommerhitze durch eine kühle Brise vom Marmarameer gemildert. Über den lebendigen Nachmittagshimmel Stambuls ziehen Scharen von Störchen und Fischreihern, die drüben auf der asiatischen Seite nisten. Der Professor führt den Pastor am Seraskeriat Enver Paschas und an der Sultan Bajazid-Moschee vorbei in die langen Straßenzüge von Ak Serai. Endlos zieht sich der Weg westwärts. Schon geraten sie in das ruinenhafte Gewirr der innersten Stadt. Die Pflasterung der Gassen verschwindet. Schaf- und Ziegenherden begegnen ihnen. Aus dem schwärzlichen Durcheinander zahlloser Holzhäuser ragt die uralte byzantinische Stadtmauer mit ihren Zinnen, Türmen und Vesten drohend empor. Johannes Lepsius ist durchaus nicht in der Stimmung, sich mit seinem künstlerischen Auge dieser romantischen, wenn auch mißduftenden Stadtschaft zu erfreuen. Auch jener Mittelpunkt der islamischen Frömmigkeit, den er heute kennen lernen soll, interessiert ihn nicht um neuer Erfahrungen willen. Wie jeder Geist, der von einem übermächtig quälenden Streben ausgefüllt ist, setzt er alles einzig und allein in Beziehung zu dem armenischen Unglück. Er ist also keineswegs empfänglich für neues Erleben, sondern wälzt bereits Pläne und Entwürfe. Diese Entwürfe und nicht etwa Neugier sind der Grund für die Fragen, die er seinem Begleiter stellt:
    »Wir gehen wohl zu den Mewlewi-Derwischen?«
    Lepsius weiß trotz seiner langen Aufenthalte in Palästina und Kleinasien so gut wie gar nichts vom Islam.

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