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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Hauptstadt ganz verlassen dasteht und an der Vertretung seines Heimatlandes nicht nur keinen Rückhalt, sondern fast einen Feind besitzt. Sollte Ittihad den guten Gedanken fassen, ihn um die Ecke zu bringen, ein großes diplomatisches Geräusch um seinen Leichnam würde nicht entstehen. In kleinmütigen Stunden denkt er an die Heimreise. Er verliert nur seine Zeit. Die dritte Augustwoche ist schon angebrochen. Unbeschreibliche Hitze brütet über dem Bosporus. Was will ich hier ausrichten, fragt er sich. Und dann vergleicht er seine Situation mit der eines ungeübten Einbrechers, der eine siebenfach versperrte Eisentür ohne Dietrich und Nachschlüssel nur mit der nackten Hand, dafür aber unter den Augen der Polizei aufzusprengen sucht. Dies aber ist klar. In die siebenfach versperrte Eisentür, die ins Innere führt, muß eine Bresche gelegt werden, sofern auch nur eine Spur wirklicher Hilfe möglich sein soll. All jene Gelder, die auf offiziellen Wegen ins Innere fließen, zerstäuben und bringen diese wirkliche Hilfe nicht.
    Johannes Lepsius wagt es, Monsignore Sawen, den armenischen Patriarchen, zu besuchen. Seit dem Tage, da er ihn zum letzten Male sah, scheint der letzte Rest von Leben aus der erloschenen Gestalt des Erzpriesters gewichen zu sein. Geistesabwesend starrt der fromme Mann seinen Besuch an. Als er ihn erkennt, kann er die Tränen nicht zurückhalten.
    »Sie werden sich schaden, mein Sohn«, flüstert er, »wenn man Sie bei mir weiß.«
    Der Pastor bekommt nun die Wahrheit in ihrem ganzen Grauen zu hören, so wie sie sich in den Wochen seiner Abwesenheit entwickelt hat. Der Patriarch berichtet ihm kurz und trocken, wie ohne Sprache gleichsam. Jeder Rettungsversuch ist nicht nur aussichtslos, sondern auch überflüssig, da die Aussiedlung nun völlig durchgeführt ist. Die Priesterschaft sei zum größten Teil, die politische Führerschaft zur Gänze ermordet. Das Volk bestehe nur mehr aus verhungernden Weibern und Kindern. Jede Unterstützung, die man von deutscher oder neutraler Seite diesen Armeniern zuwende, reize die Wut Envers und Talaats zu neuen Schreckenstaten auf:
    »Am besten, man unternimmt gar nichts, man bleibt still, man stirbt.«
    Ob Lepsius nicht bemerkt habe, daß dieses Haus, das Patriarchat, von Spitzeln und Konfidenten umlagert sei. Jedes Wort, das in diesem Zimmer falle, gelange morgen unausweichlich zur Kenntnis Talaat Beys. Mit entsetztem Augenzwinkern bittet Monsignore Sawen den Gast, das Ohr an seinen Mund zu neigen. Auf diese Weise erfährt Lepsius von der Armeniererhebung auf dem Musa Dagh, von den Niederlagen des türkischen Militärs und von der bisherigen Uneinnehmbarkeit des Berges. Die Flüsterstimme des Patriarchen zittert:
    »Ist es nicht schrecklich? Das Militär soll mehrere hundert Tote haben?«
    Johannes Lepsius findet das gar nicht schrecklich. Seine blauen Augen leuchten knabenhaft hinter seinem scharfen Zwicker:
    »Schrecklich? Nein, herrlich! Gäbe es noch drei solche Musa Dagh, die Sache würde anders aussehen. Ach, Monsignore, am liebsten wäre ich auch auf diesem Musa Dagh!«
    Der Pastor hat unachtsam laut gesprochen. Der Patriarch hält ihm mit angsterstarrter Gebärde den Mund zu. Beim Abschied übergibt ihm Lepsius einen Teil der Sammelgelder des deutschen Hilfswerkes. Sawen sperrt die Banknoten hastig in die Wertheimkassa seiner Kanzlei, als seien sie Feuer. Die Hoffnung ist nicht sehr groß, daß ihr Segen den Bestimmungsort Deir es Zor erreicht. Der Monsignore flüstert dem Deutschen wieder etwas scharf ins Ohr, das dieser zuerst gar nicht begreift:
    »Nicht wir vom Patriarchat und nicht Sie und nicht andre Deutsche und keine Neutralen, man müßte Türken als Mittler und Helfer finden, verstehen Sie, Türken!«
    »Wieso denn Türken«, murmelt Lepsius leise und sieht Enver Paschas Gesicht vor sich. Die Idee ist verrückt.
     
    Die Idee ist verrückt. Und doch befindet sie sich schon über den Kopf von Lepsius hinweg auf dem Wege der Verwirklichung. Im Speisesaal seines Hotels hat der Pastor einen türkischen Arzt von ungefähr vierzig Jahren kennen gelernt. Professor Nezimi Bey ist eine sehr elegante westliche Erscheinung. Er wohnt im Tokatlyan, hat aber seine Ordination in einer vornehmen Straße von Pera. Lepsius hält den Professor anfangs für eine der sympathischesten Verkörperungen der jungtürkischen Welt. Trotz der europäischen Wissenschaft und eines fabelhaft geschnittenen Gehrocks trügt jedoch dieser Schein. Die beiden Herren geraten

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