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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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das ist eine der wichtigsten Pflichten unserer Bruderschaft. Siehe, der Türbedar hier, der so hart redet, ist einer unserer eifrigsten Friedensboten. Lange, ehe wir noch von dir wußten, arbeitet er schon für die Ausgetriebenen. Und er ist nicht allein. Wir haben unsere Friedensboten auch unter wirklichen Kriegern …«
    (Er winkt den Infanteriehauptmann zu sich heran, der, wahrscheinlich als der jüngste und unvollkommenste Ordensbruder, auf der entferntesten Matte sitzt.)
    Der Hauptmann
(nimmt schüchtern neben seinem alten Scheich Platz. Er hat große zärtliche Augen und empfindsame Züge, denen nur der große wohlgepflegte Schnurrbart zu soldatischer Stattlichkeit verhilft.)
    Der alte Scheich:
»Du hast in unserem Auftrag die armenischen Transportlager im Osten besucht.«
    Der Hauptmann
(wendet sich an Johannes Lepsius):
    »Ich bin Offizier bei dem Stabsregiment, das dem Generalkommando deines großen Landsmannes Marschall Goltz Pascha zugeteilt ist. Auch das Herz des Pascha ist von Sorge und Leid um seine christlichen Glaubensgenossen erfüllt. Doch nur wenig kann er in dieser Sache gegen den Willen des Kriegsministers ausrichten. Ich habe mich bei ihm gemeldet und den Urlaub für meine Aufgabe erhalten …«
    Der alte Scheich:
»Und welche Orte hast du auf deiner Reise gesehen?«
    Der Hauptmann:
»Die meisten Deportationslager liegen an den Ufern des Euphratflusses zwischen Deï es Zor und Meskene. In den drei größten habe ich mich mehrere Tage lang aufgehalten.«
    Der alte Scheich:
»Und kannst du uns einen Bericht darüber geben, was dir begegnet ist?«
    Der Hauptmann
(streift Lepsius mit einem gequälten Blick):
    »Es wäre mir viel lieber, dürfte ich vor diesem Fremden hier schweigen …«
    Der alte Scheich:
»Der Fremde soll verstehen lernen, daß es sich um die Schmach unsrer eigenen Feinde handelt. Rede!«
    Der Hauptmann
(starrt zu Boden, sucht nach Worten. Er kann das Unbeschreibliche nicht beschreiben. Die blassen abgerissenen Sätze geben den Geruch und die Bilder nicht wieder, deren Ekel ihn würgt):
    »Schlachtfelder sind grauenhaft … Aber das größte Schlachtfeld ist gar nichts gegen Deïr es Zor … Das kann sich niemand vorstellen …«
    Der alte Scheich:
»Und was ist das Schlimmste?«
    Der Hauptmann:
»Es sind keine Menschen mehr … Gespenster … Doch nicht von Menschen … Gespenster von Affen … Sie sterben nur langsam, weil sie Gras fressen und hie und da einen Bissen Brot bekommen … Das Allerschlimmste aber, sie haben keine Kraft mehr, die Zehntausende von Leichen zu begraben … Deïr es Zor, das ist ein ungeheurer Abort des Todes …«
    Der alte Scheich
(nach einer langen Pause): »Und welche Hilfe gibt es für sie?«
    Der Hauptmann:
»Hilfe? Am wohlsten wäre ihnen, wenn man sie alle an einem einzigen Tag totschlüge … Ich habe ein Rundschreiben an unsere Brüder gerichtet … Es ist uns gelungen, mehr als tausend Waisenkinder in türkischen und arabischen Familien unterzubringen … Aber das bedeutet ja so wenig.«
    Der Türbedar:
»Und was wird die Folge davon sein, daß wir diese Kinder in unseren Familien sorgfältig und liebevoll erziehen? Die Europäer werden eifern, wir hätten sie geraubt, um sie zu schänden und zu mißhandeln.«
    Der alte Scheich:
»Das ist wahr, aber gleichgültig.« (Zum Hauptmann): »Haben diese Armen in dir, dem Türken, nur den Feind gesehen, oder konntest du ihr Vertrauen gewinnen?«
    Der Hauptmann:
»In ihrem entmenschten Elend wissen sie nicht mehr, wer Freund und Feind ist … Immer, wenn ich in eines dieser Lager kam, stürzten sich die Horden auf mich … Es sind meist nur Weiber und Greise, alle beinahe nackt … Sie brüllten vor Hunger. Die Weiber suchten im Kot meines Pferdes nach unverdauten Haferkörnern … Später haben sie mich dann mit ihrem Vertrauen fast zerrissen … Ich bin beladen mit ihren Aufträgen und Bitten, die ich nicht erfüllen kann … Hier zum Beispiel dieser Brief …«
    (Er zieht einen schmutzigen Zettel aus der Tasche und zeigt ihn Johannes Lepsius.) »Ihn hat ein christlicher Geistlicher geschrieben, wie du einer bist. Er saß neben der unbegrabenen Leiche seiner Frau, die schon den dritten Tag dalag. Es war nicht auszuhalten … Ein ganz kleiner Mann, von dem kaum mehr etwas übrig war. Harutiun Nokhudian heißt er und ist irgendwo an der syrischen Küste zu Hause. Seine Landsleute sind auf einen Berg geflohen. Ich habe ihm versprochen, diesen Brief den Seinigen zukommen zu

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