Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
ihre Bedeutung hätten, wenn man sie zu erfassen verstünde. Alleingeblieben, blickt Johannes Lepsius zu den Fenstern von Envers Hochsitz empor. Sie brennen in der Nachmittagssonne. Er wirft sich in eine Droschke: »Zum armenischen Patriarchat!« Alle Konfidenten der Welt sind ihm jetzt gleichgültig. Er bedrängt mit seinem Ungestüm den erloschenen Erzpriester. Der Gedanke des Monsignore Sawen lasse sich unglaublicherweise verwirklichen. Alttürkische Kreise helfen den Armeniern, ohne daß man es bisher gewußt habe. Die beste Klasse des Volkes sei in unauslöschlichem Haß gegen die atheistischen Führer entbrannt. Man müsse dieses Feuer für die eigene Sache benützen … Monsignore Sawen greift sich mit beschwörender Geste an den Mund. Nicht so laut, bei Christi Barmherzigkeit! Der rasche Geist des Pastors entwickelt einen großzügigen Organisationsplan. Das Patriarchat solle sich heimlich mit den großen Derwisch-Orden in Verbindung setzen und so den Grund zu einem weitverzweigten Hilfswerk legen, das zum entscheidenden Rettungswerk anwachsen müsse.
    Durch einen starken Impuls würde die religiöse Schichte der Türken in ihrem Kampf gestärkt werden und ein mächtiger Widerstand gegen Enver und Talaat im Volke sich bilden. Monsignore Sawen ist weit weniger optimistisch als Johannes Lepsius. Ihm sind diese Dinge nicht unbekannt. Er flüstert mit kaum hörbarer Stimme. Nicht alle Derwisch-Orden glichen dem erwähnten. Die größten und einflußreichsten zumal, Mewlewi und Rufai, seien blinde Armenierhasser. Sie verfluchten zwar Enver, Talaat und alle anderen Größen des Komitees, fänden aber die Ausrottung völlig in Ordnung. Johannes Lepsius läßt sich seine Zuversicht nicht rauben. Man müsse die Hände ergreifen, die sich bieten. Er schlägt dem Patriarchen eine verborgene Zusammenkunft mit Scheich Achmed vor, die Nezimi Bey vermitteln soll. Monsignore Sawen ist über all diese Kühnheiten so entsetzt, daß er froh zu sein scheint, als der temperamentvolle Pastor sein Zimmer verläßt.
    Lepsius entlohnt die Araba am jenseitigen Brückenende. Er will die kurze Strecke bis zum Tokatlyan zu Fuß gehen. Seit Monaten einer unausdenklichen Depression fühlt er sich jetzt so wundervoll erhoben, als dürfte er auf einen großen Erfolg zurückblicken. Dabei hat er gar nichts Wirkliches erreicht, sondern nur einen schwachen Lichtspalt erblickt. Er geht in Gedanken die Grande rue Pera immer weiter und an seinem Hotel vorbei. Ein herrlich kühler Abend ist herabgesunken. Der Himmel schimmert hellgrün über den Baumspitzen einer parkartigen Alleestraße. Das ist eine ausnehmend feine Stadtgegend. Gesandtschaftsviertel, denkt Lepsius, und kehrt langsam um. Sogar Bogenlampen gibt es hier, die zögernd aufstrahlen. Ein Auto kommt ihm in gemächlicher Fahrt entgegen. Das Innere des Wagens ist beleuchtet. Ein Offizier sitzt neben einem dicken Zivilisten, in lebhaftem Gespräch begriffen. Johannes Lepsius fühlt plötzlich den Geschmack eines leisen Schrecks auf der Zunge. Er hat Enver Pascha erkannt. Die blitzende Jugendgestalt, das frische Gesicht mit den langen Mädchenwimpern. Und der Nachbar mit dem schiefgerückten Fez und der weißen Weste ist ohne Zweifel Talaat Bey, wie man ihn auf vielen Bildern sehen kann. Nun ist er dem großen Feinde doch wieder begegnet. Im stillen hat er es sonderbarerweise immer gewünscht. Gebannt rührt er sich nicht von seinem Fleck und sieht dem Auto nach. Es hat sich noch keine hundert Meter entfernt, als zwei Schüsse kurz hintereinander fallen. Die Bremse zieht kreischend an. Aus dem Dunkel springen undeutliche Gestalten hervor. Scharfe Stimmen fahren aufeinander los. Wird um Hilfe gerufen? Der Pastor spürt wie seine Glieder eiskalt werden. Ein Attentat!? Hat Enver und Talaat das Schicksal erreicht? Und er sollte Zeuge sein? Es zieht ihn unwiderstehlich zu der Unheilstelle. Er möchte nichts sehen, aber er kann nicht anders. Nur zaghaft kommt er der schreienden Gruppe näher. Jemand hat ein grelles Karbidlicht angezündet, um das sich die Gaffer drängen, laut ihre Ratschläge erteilend. Der Chauffeur arbeitet ächzend und fluchend unter dem Wagen. Enver Pascha aber und Talaat Bey stehen friedlich nebeneinander und rauchen ihre Zigarette. Das Auto ist mit den Vorderreifen auf ein scharfkantiges Hindernis aufgefahren, die Reifen sind geplatzt und die Maschine hat Schaden genommen. Das Lächerlichste aber, weder ist Enver Enver, noch Talaat Talaat. Der eine hat sich in einen ganz

Weitere Kostenlose Bücher