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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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tun ihm nicht halb so weh wie seine verrenkten Beine):
    »All das, was ich hier von euch zu hören bekomme, ist mir nicht neu. Ja, ich selbst habe oft ähnliche Worte zu meinen Landsleuten gesprochen. Ich bin Christ, christlicher Priester sogar, dennoch bekenne ich hier vor euch gerne, daß ein großer Teil der Christen, die mir begegnet sind, aus gleichgültigen und gottlosen Lippendienern besteht …«
    Der Türbedar
(läßt trotz des stummen Verweises durch Scheich Achmed von seiner verstockten Rechthaberei nicht ab):
    »Du siehst also ein, daß nicht wir Türken, sondern ihr selbst die wahren Schuldtragenden seid?«
    Johannes Lepsius:
»Meine Religion befiehlt mir, alle Schuld als unausweichliche Erbschaft Adams anzusehen. Die Menschen und Völker werfen einander die Erbschuld zu wie einen Ball. Es ist nicht möglich, sie durch ein Datum oder eine Begebenheit abzugrenzen. Wo sollten wir da anfangen und wo aufhören? Ich bin nicht hier, um auch nur ein einziges Wort des Vorwurfs gegen das türkische Volk zu erheben. Das wäre ein großer Irrtum. Ich bin hier, um euer gütiges Verständnis zu erbitten.«
    Der Türbedar:
»Jetzt kommt ihr, Verständnis zu erbitten, nachdem ihr das Böse erweckt habt!«
    Johannes Lepsius:
»Ich bin kein Chauvinist. Jeder Mensch gehört einer Volksgemeinschaft an, ob er will oder nicht, und bleibt mit ihr verbunden. Das ist eine selbstverständliche Tatsache der Natur. Als Christ glaube ich, daß unser Herr im Himmel die Verschiedenheit um der Liebe willen schuf. Denn ohne Verschiedenheit und Spannung ist ja keine Liebe möglich. Auch ich bin meiner Natur nach sehr verschieden von den Armeniern. Und dennoch habe ich sie verstehen und lieben gelernt.«
    Der Türbedar:
»Hast du aber jemals darüber nachgedacht, wie sehr die Armenier uns lieben und verstehen? Sie waren es, die wie ein elektrischer Draht eure höllische Unruhe in unseren Frieden geleitet haben. Und hältst du sie gar für unschuldige Lämmer? Nun, ich sage dir, daß sie jeden Türken, der ihnen bei guter Gelegenheit in die Hand fällt, kalt abschlachten. Wäre es dir vielleicht nicht bekannt, daß sich selbst ihre christlichen Priester an solchen Mordtaten freudig beteiligen?«
    Johannes Lepsius
(muß das erstemal an sich halten, um keine scharfe Antwort zu geben):
    »Wenn du es sagst, Effendi, so werden derartige Freveltaten der Rache da und dort wirklich geschehen sein. Vergiß aber nicht, was eure Hodschas, Mollas und Ulemas sich an Aufhetzereien geleistet haben. Dabei seid ihr doch die Starken und die Armenier die Ohnmächtigen.«
    Der Türbedar
(nicht nur ein gelehrter Mann, sondern mehr noch ein trefflicher Polemiker, versteht die Kunst aufs beste, sich aus gefährlichen Einzelheiten sofort hinter das Wohlumpanzert-Allgemeine zurückzuziehen):
    »Ihr habt in der ganzen Welt Verleumdungen über unsre Religion ausgestreut. Die boshafteste ist die Verleumdung der Unduldsamkeit. Glaubst du, es würde in dem Reich, das der Kalif jahrhundertelang beherrscht, auch nur ein einziger Christ mehr leben, wären wir unduldsam gewesen? Was tat der große Sultan, der Stambul eroberte, im ersten Jahr seiner Regierung? Verjagte er die Christen aus seinem Reich? Wie? Nein, er errichtete das griechische und das armenische Patriarchat und stattete es mit Macht und Glanz und Freiheit aus. Was aber taten die Euren in Spanien? Sie warfen die Moslems, die dort ihre Heimat hatten, zu Tausenden ins Meer und verbrannten sie auf Scheiterhaufen. Schicken wir euch Missionare, oder ihr uns? Das Kreuz tragt ihr vor euch nur her, damit die Bagdadbahn und die Ölgesellschaften bessere Dividenden abwerfen.«
    Der alte Scheich:
»Die Sonne ist herrschsüchtig, der Mond ist milde und friedlich. Der Türbedar spricht beleidigende Worte, dir aber, unserem Gaste, gelten sie nicht. Du mußt es verstehen, daß auch unsere Leute erbittert sind über das Unrecht, das unserer Religion geschieht. Weißt du, welches das Wort ist, das nach dem Namen Gottes am häufigsten den Koran ziert? Das Wort: Frieden! Und weißt du, was die zehnte Sure sagt? ›Einst waren die Menschen nur eine einzige Gemeinde. Dann wurden sie uneins. Doch wäre der Befehl des Herrn nicht ergangen, entschieden wäre schon zwischen ihnen, worüber sie uneins sind.‹ Auch wir streben nicht anders als ihr Christen nach einem Reich der Einheit und der Liebe. Auch wir hassen unsere Feinde nicht. Kann ein Herz überhaupt hassen, das die Empfängnis Gottes in sich schließt? Frieden zu bringen,

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