Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
lassen. Aber wie?«
    Johannes Lepsius
(spürt, durch die Erzählungen des Hauptmanns im Innersten erstarrt, den Muskelkrampf seiner gekreuzten Beine längst nicht mehr. Er liest auf dem hingehaltenen Zettel nur die großen armenischen Buchstaben der Anschrift: ›An den Priester von Yoghonoluk Ter Haigasun‹.): »Auch diese Bitte wird nicht erfüllt werden wie alle andern.«
    Agha Rifaat Bereket
(hat seinen Bernsteinkranz verschwinden lassen. Die feine Gestalt des Alten von Antakje macht einige wiegende Bewegungen gegen den Scheich hin): »Diese Bitte kann erfüllt werden … Ich will den Brief des Nokhudian seinen Landsleuten zustellen. In einigen Tagen schon werde ich an der syrischen Küste sein.«
    Der alte Scheich
(wendet sich mit einem kleinen Lächeln zu Lepsius): »Welch ein Beispiel für Gottes Walten! Zwei Brüder, die sich fremd sind, begegnen einander in dieser großen Stadt, damit der Wunsch eines Unglücklichen erfüllt werden kann … Nun aber wirst auch du uns besser erkennen. Sieh meinen Freund, den Agha aus Antakje! Er ist kein Mann mehr im kräftigen Alter wie du, er trägt seine siebzig Jahre schon. Und doch reist er und arbeitet seit vielen Monaten für die ermeni millet, er, ein guter Türke. Um ihretwillen hat er sogar den Sultan und den Scheikh ül Islam aufgesucht.«
    Agha Rifaat Bereket:
»Der Leiter meines Herzens kennt meine Absichten. Leider aber sind die anderen sehr stark und wir sehr schwach.«
    Der alte Scheich:
»Wir sind schwach, weil die Knechte Europas unserem Volk die Religion rauben. Es ist so, wie es der Türbedar mit bösen Worten gesagt hat. Nun weißt du die Wahrheit! Die Schwachen aber sind nicht feige. Ich kann nicht beurteilen, ob dir deine Wirksamkeit für die Armenier Gefahren bringt. Dem Agha und dem Hauptmann kann sie höchst gefährlich werden. Wenn ein Verräter oder Spitzel der Regierung sie angibt, verschwinden sie für immer im Gefängnis.«
    Johannes Lepsius
(beugt sich über die Hand Scheich Achmeds. Es wird aber kein Kuß daraus, da der Pastor seine Scham und Verschlossenheit nicht überwinden kann): »Ich segne diese Stunde und ich segne euren Bruder Nezimi, der mich hierhergeführt hat. Keine Hoffnung hatte ich mehr. Jetzt aber hoffe ich wieder, daß man trotz aller Transportlager einen Teil des Armenierstammes mit eurer Hilfe wird erhalten können.«
    Der alte Scheich:
»Das steht allein bei Gott … Verabrede dich mit dem Agha!«
    Johannes Lepsius:
»Gibt es eine Möglichkeit, die Männer vom Musa Dagh zu retten?«
    Der Türbedar
(gerät wieder in Zorn, da dieses Mitgefühl mit Empörern für sein osmanisches Herz zu weit geht): »Der Prophet sagt: Wer zugunsten eines Verräters beim Richter einschreitet, ist selbst ein Verräter. Denn wissentlich oder unwissentlich fördert er die Unruhe.«
    Der alte Scheich
(die nüchterne Überlegenheit seines Wesens weicht zum erstenmal von ihm. Er starrt in die Ferne und seine Worte klingen unentwirrbar zweideutig): »Vielleicht sind die Verlorenen schon in Sicherheit und vielleicht sind die Sicheren schon verloren.«
    Ein Diener des Scheichs und der dicke Pförtner mit den milden Augen bringen Kaffee und Lokum, türkisches Zuckerwerk. Scheich Achmed reicht seinem Gast eigenhändig die Tasse. Ehe er sich verabschiedet, will Johannes Lepsius noch einmal das Gespräch auf die armenische Sache bringen. Es gelingt ihm aber nicht. Der alte Scheich lehnt jedes weitere Wort darüber kühl ab. Der Agha Rifaat Bereket hingegen verspricht dem Pastor, ihn noch an demselben Abend im Hotel aufzusuchen, da er schon sechsunddreißig Stunden später verreisen müsse.
    Doktor Nezimi Bey verläßt den Pastor beim Seraskeriat. Die beiden Männer haben den langen Weg fast schweigend zurückgelegt. Der Türke glaubt, der Pastor sei mit seinen Eindrücken so leidenschaftlich beschäftigt, daß er kein Wort findet. Das stimmt auch, doch in anderem Sinn. Der Kopf dieses Besessenen ist zum Platzen voll von neuen Ideen. Er denkt nicht an die geheimnisvolle neue Welt, in der er einige Stunden verbracht hat, sondern nur an »die Bresche ins Innere«, die sich durch einen wundersamen Zufall plötzlich aufgetan hat. Immer wieder drückt er Nezimi stumm die Hand zum Danke. Doch die Worte, die jener jetzt spricht, vernimmt er nur ungenau. Er möge, so fordert ihn der Türke auf, in den nächsten Tagen die kleinen Begebenheiten seines Lebens wohl beachten. Wen Scheich Achmed der Herzprobe gewürdigt habe, dem begegneten mitunter Ereignisse, die

Weitere Kostenlose Bücher