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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Art in das Felsgebiet des Musa Dagh eingesprengt und für Fremde so gut wie unsichtbar und unzugänglich. Durfte man jedoch den Schäfern vertrauen, die sich wie überall in der Welt aus träumerischen Greisen und kleinen Jungen zusammensetzten? Diese verschlafene Gesellschaft, die sich der Schafnatur angeglichen hatte, glaubte noch immer, man lebe in tiefem Frieden. Die Muchtars waren mit einem Wort in der Ausübung ihrer Dienstpflichten höchst lässig geworden und gaben sich damit zufrieden, wenn die Schäfer allmorgendlich mit der vorgeschriebenen Stückzahl von Schlachtvieh (dessen Gewicht sich übrigens seit dem neuen Brauch zusehends verbesserte) bei den Fleischbänken erschienen. Als Mitglieder des Führerrates aber wollten sie nichts wissen. Umso gewissenloser und frevelhafter war mithin das zweite Versäumnis, das sie duldeten. Der Beschluß war sogar schriftlich ausgefertigt und von Ter Haigasun unterschrieben worden, solche Wichtigkeit hatte ihm der Senat beigemessen. Niemals sollten die Herden, dieser kostbare Volksbesitz, ohne bewaffneten Schutz weiden, auch nicht innerhalb der Lageralmen, auf den beiden Hochkuppen oder auf den Wiesen der Meerseite. Um diesen Ratsbeschluß aber auch unter den geänderten Umständen zu verwirklichen, hätte man den neuen Brauch einbekennen müssen, was dessen Verhinderung gleichgekommen wäre. So unterblieb denn jegliche Maßnahme des Schutzes. Die Muchtars vertrauten auf Gott, auf die wohlverborgenen Weiden, auf die Trägheit der Türken und redeten im übrigen weder miteinander noch mit anderen Führern über dieses ordnungswidrige Geheimnis hinter ihrem Rücken. Sie ermöglichten daher den Türken, die ihren guten Kundschaftern dankbar sein mußten, einen ebenso wohlfeilen wie einträglichen Erfolg.
    Zwei Züge Infanterie und eine Abteilung Saptiehs bekamen den Befehl, nächtlicherweile auszurücken und den Musa Dagh jenseits des Passes bei Bitias in aller Stille zu ersteigen. Stille und Behutsamkeit mußte man Offizier und Mannschaft wahrhaft nicht einschärfen. Diesmal marschierte die Streitmacht trotz der mondlosen Nacht, wie es das taktische Lehrbuch vorschreibt, mit Vorpatrouille, Spitze, Seiten- und Nachhut, jeden Schritt ängstlich abwägend. Diese schreckhafte Vorsicht war das unbezahlbare Kapital, das sich Gabriel Bagradian und seine Zehnerschaften im Herzen der Türken erworben hatten. Die Halbkompagnie pirschte sich mit abgeblendeten Laternen an die schlafenden Schäfer und Schafe heran. Bis zum letzten Augenblick vermutete der kommandierende Mülasim, es werde ohne Kampf nicht abgehen. Umso erstaunter aber waren die Soldaten, als sie nur ein paar Greise in weißen Pelzen vorfanden, die sich ohne Lärm und in aller Ruhe von ihnen erschlagen ließen. Die Herden wurden dann noch vor Sonnenaufgang in größter Eile, als sei die Beute in Gefahr, zu Tal getrieben. Damit war dem Volke des Damlajik der Lebensnerv durchschnitten. Unter den geraubten Tieren befanden sich alle Schafe, Hammel und Lämmer der Gemeinschaft, der größte Teil der Ziegen sowie sämtliche Esel bis auf jene, welche von den Verteidigern zur Zeit als Last- und Reittiere verwendet wurden. Rechnete man den ganzen Viehstand, der im Lager zurückgeblieben war, bis zum letzten Pfund Fleisch großmütig zusammen, so konnte man mit der äußersten Sparsamkeit noch drei oder vier Tage auskommen, dann aber stand das Volk unabwendbar vor dem nackten Hunger.
    Als Ter Haigasun am frühen Morgen die Schreckensnachricht erhielt, ließ er sofort den Führerrat zusammenrufen. Er wußte genau, welche seelische Wirkung dieses Ereignis auf das Volk haben werde. Seit jenem Zornausbruch gegen Juliette Bagradian war eine grund- und ziellose Erbitterung in der Stadtmulde angewachsen, die der erstbesten Gelegenheit wartete, um loszubrechen. Wie gerne hätte Ter Haigasun die Katastrophe verheimlicht oder ihr eine Fassung gegeben, die Schuld und Verantwortlichkeit der Führung ausschloß. Dies aber war leider unmöglich. Die Gewählten eilten oder schlichen, je nach ihrem Charakter und Gewissen, in die Regierungsbaracke. Alle waren bestrebt, den Sitzungsraum zu erreichen, ehe sich noch auf dem Altarplatz irgendwelche Ansammlungen gebildet hatten. Die Männer machten teils einen verzweifelten, teils einen betretenen, teils einen unsicher überheblichen Eindruck. Ter Haigasun hatte zur Vorsicht die zwölf Mann der Stadtpolizei zum Schutze der Regierung beordert. Tschausch Nurhan Elleon bekam den Auftrag, für die

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