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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Fieber war nicht wieder gesunken. Ihre Bewußtlosigkeit schien den tiefsten Grund erreicht zu haben. Die Unruhe des Körpers war gewichen, das Herumzucken, Würgen, Röcheln und Stammeln. Jetzt lag sie steif ausgestreckt, regungslos, nur dem Atem hingegeben, der in kurzen, flachen Stößen über ihre schorfbedeckten Lippen strich. War nun nach dem Gesetz der Seuche die Krise gekommen, die in wenigen Stunden über Leben und Tod entschied?
    Iskuhi kümmerte sich nicht um Juliette. Mochte sie leben und sterben nach ihrem Willen. Iskuhi dachte auch nicht mehr an die schweren Drohungen Arams, ihres Bruders, der sich völlig von ihr loszusagen geschworen hatte, sollte sie nicht bis zur Mittagsstunde die Bagradians verlassen haben. Im Zelte stand Gabriel hochaufgerichtet, so daß er mit dem Kopf fast die Decke berührte. Doch er schien noch weiter entrückt zu sein als die Fiebernde und Iskuhi gar nicht wahrzunehmen. Sie war an ihm herabgeglitten und preßte den Kopf gegen seine Knie. In dieser Stunde bewegte sie nicht so sehr Stephans Tod wie Gabriels Dulderschaft. Nur sie wußte, wie scheu und bedürftig seine Seele war. Und doch hatte er sich entschlossen, eine brennende Welt auf seinen wunden Rücken zu nehmen, den ganzen Damlajik. Die Seinen aber hatten ihm die Sehnen durchschnitten, zuerst Juliette und nun der tote Sohn. Und Gabriel stand noch immer. Was war sie, was war Aram, was waren all die andern für nichtige Fliegen gegen ihn? Rohe, schmutzige Bauern, ohne Gedanken im Kopf, ohne Gefühle im Herzen, die nicht ahnten, wer zu ihnen herabgestiegen war. Iskuhi fühlte sich von ihrer eigenen Schwäche, ihrem eigenen Unwert zu Boden geschlagen. Was konnte sie leisten und opfern, um Gabriels würdig zu sein? Nichts! Sie streckte die offene Hand aus. Es war die Gebärde einer Bettlerin. Sie bettelte um ein Teilchen seines Schmerzes und seiner Last. Ihr Gesicht glühte vor Devotion und schmerzlichem Dienstbedürfnis, da sie vor dem Manne kniete, der noch immer nicht zu erkennen gab, daß er ihre Gegenwart spüre. Sie fing zu flüstern an, heißes, ungereimtes Zeug, vor dem sie selbst erschrak und sich schämte. Wie arm war sie, wie grauenhaft arm, daß sie gar keine Macht der Hilfe hatte. Endlich kam, aus der Verzweiflung geboren, ein mütterlicher Drang über sie, kaum bewußt: Es ist nicht gut, im Schmerze zu stehen. Im Schmerze soll man liegen. Schlafen. Er muß schlafen. Nur der Schlaf kann ihm helfen, nicht ich. Sie hakte seine Gamaschen auf, sie nestelte an seinen Schuhbändern, sie zwang ihn, sich auf ihr Lager zu setzen. Auch ihre lahme Hand nahm sie mit übermenschlicher Anstrengung dabei zu Hilfe. Es war ein hartes Werk, doch da Gabriel sich mechanisch selbst zu entkleiden begann, gelang es. Als Iskuhi ihn dann zudeckte, keuchte sie vor Erschöpfung. Sie fühlte einen schnell abgleitenden Blick ohne Ausdruck.
    Ich liege weich. Etwas andres wußte Gabriel nicht. Seit vielen Wochen schon hatte er kein andres Lager benützt als die nackte Erde der Nordstellung. Seine Zähne begannen zu klappern. Es war wie ein aus Qual und Wohlbehagen gemischter Schüttelfrost. Iskuhi kauerte sich in einen Winkel, damit er sie nicht fühle, ehe er ihrer bedurfte. Sie betete innerlich, daß ihn ein schwerer Schlaf endlich erlöse. Es drang aber nicht der Atem des Schlafes aus seiner Brust, sondern ein leises Summen und gleichmäßiges Stöhnen, das an die Totenklage erinnerte. Gabriel suchte noch immer in der leeren Öde seines Schmerzes nach Stephan, ohne ihn finden zu können. Das Summen aber schien sein Herz zu erleichtern, denn es hielt mit kleinen Unterbrechungen an, bis die Stunde kam, in der die Augustsonne einen langen Strahl durch den Vorhangspalt zu schicken pflegte. Der Strahl rückte vor und ließ Juliettens Gesicht aufflammen. Da sah Iskuhi, daß sich die Verfassung der Kranken plötzlich geändert hatte. Auf ihrer Stirn standen Schweißperlen, die Augen waren weit offen und den Kopf hielt sie lauschend in den Raum gewandt. Eine tiefe Begeisterung erfüllte Juliette. Noch aber konnte sie sich mit ihrer lahmen und wunden Zunge kaum verständlich machen.
    »Glocken … Gabriel … Hörst du … Glocken … Hundert Glocken … Nicht wahr …?«
    Das Stöhnen auf dem anderen Lager verstummte jäh. Juliette aber versuchte, sich erregt hochzuarbeiten. Sie spannte ihre kraftlose Stimme zu einem Jubelschrei an:
    »… Nun ist die ganze Welt französisch …«
    Diese Worte aber enthielten eine Wahrheit, von der Juliette

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