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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Verbündeter. Hrand Oskanian, der sich früher um Juliettens willen täglich rasiert hatte, was bei dem Mangel an Seife ein stiller, aber redlicher Heroismus war, sah nun völlig verwahrlost aus. Der Bart wucherte ihm bis an die Nasenflügel. Die struppigen Stachelhaare umkränzten ungekämmt die kurze Stirn. Mit seiner spitz vorspringenden Hühnerbrust und den langen, tief unten rudernden Armen machte der schwarze Lehrer tatsächlich den Eindruck eines fanatisierten Affen. Vielleicht war der Schweiger von seiner Überzeugung wirklich besessen, vielleicht packte er nur die Gelegenheit beim Schopf, sich an Juliette, an Grabriel, an Ter Haigasun und allen andern Überlegenen zu rächen, aus seinem Munde jedenfalls sprudelte mit wilden Silben-Explosionen das alte Lied:
    »Wollt ihr die Wahrheit immer noch nicht sehen? Seit sieben Tagen schon predige ich sie, schreie mir die Lunge aus, um euch zu überzeugen. Da habt ihr nun endlich den Beweis! Und ihr streitet um die Schuld? Und Ter Haigasun will Volksgenossen für diese Schuld erschießen lassen?! Ich stelle hiermit die Frage an ihn, welchen Grund er hat, den Blick des Führerrates von der Wahrheit abzulenken? Warum leugnet er immer wieder, daß wir verraten worden sind? Wen will er damit schützen? Hätten die Türken von den neuen Weideplätzen ohne Verrat jemals etwas erfahren?? Nie, nie! Diese Weiden sind vollkommen abgeschlossen und zwischen den Felsen versteckt. Kein Ortsfremder konnte sie je entdecken. Gonzague Maris aber hat überall herumgeschnüffelt. Und das ist ja erst der Anfang. Nächstens werden die Türken mitten im Lager auftauchen. Der Grieche wird sie über den Steilpfad der Felsseite, die er ja genau studiert hat, auf den unbeschützten Berg führen.«
    Das ließen sich die Muchtars nicht zweimal sagen. Diese neuartige Deutung der Ereignisse gab ihnen alle Würde zurück, obgleich sie keinen Augenblick daran glaubten. Thomas Kebussjan himmelte sorgenvoll im Kreise herum. Er habe den jungen Mann nicht näher gekannt – der Anfang blieb diplomatisch –, doch sei die Aufnahme in der Familie Bagradian Gewähr für ihn gewesen, daß es sich um einen ehrenhaften Menschen handle. Nach dem Geschehenen müsse er freilich dem Lehrer Oskanian beipflichten, daß Maris wahrscheinlich ein Verräter oder sogar ein von den Türken bezahlter Spitzel war. Anders lasse sich das Unglück gar nicht erklären. Der Chor der Muchtars fiel dumpf ein. Sieben Männer können auch in einem größeren Raum, als ihn die Regierungsbaracke bot, ein gewaltiges Gemurmel erzeugen. Hrand Oskanian rührte den Stimmenbrei mit seiner knatternden Heiserkeit immer wieder auf. Ist jemand von einer fixen Idee besessen, so hat er auch die Fähigkeit, diese auf andre, ja selbst auf größere Versammlungen zu übertragen. Darauf beruht die Hauptwirkung politischer Propagandisten, die nichts anderes besitzen als einen beschränkten Phrasenschatz und dämonische Eindringlichkeit der Stimme. Die Muchtars und einige andre noch gaben sich bereitwillig der von Oskanians Eindringlichkeit erzeugten Spannung hin, die zu ihrem Vorteil gereichte. Lehrer Hapeth Schatakhian konnte sich kaum vernehmlich machen. Er glühte vor Zorn gegen seinen alten Rivalen, den er schon acht Jahre an seiner Seite erdulden mußte.
    »Oskanian«, schrie er, »ich kenne dich! Du bist ein Schwindler und Gaukler! Immer warst du das, in jeder Stunde deines anmaßenden Lebens. Du willst nur Unschuldige bespeien und bedrecken. Du speist Gonzague Maris an, weil er ein gebildeter kultivierter Mensch und fast ein Franzose ist, nicht wie du und ich in einem schmutzigen Dorf geboren und lebenslänglich dahin verurteilt. Nun, ich habe wenigstens durch die Güte von Gabriel Bagradians Bruder eine Zeitlang in der Schweiz studieren dürfen, während du dessen nicht wert warst und deine Nase nicht weiter als bis nach Marasch gesteckt hast. Ich werde es nicht gestatten, daß sich gemeine Mäuler an der Familie Bagradian wetzen, der wir alle so viel zu danken haben. Doch jetzt zu dir, Oskanian: Du bespeist nicht nur den Griechen, sondern auch Madame Juliette, weil sie dich lächerlich gefunden hat mit deinem großartigen Dasitzen, du Zwergnarr, samt deinen Gedichten und deiner Kalligraphie …«
    Das war ungerecht. Oskanian hatte niemals seine Wünsche zu Juliette erhoben. Die Bewunderung für ihre strahlende Höhe, die schmachtende Resignation in deren Gefolge, sie war das heiligste Gefühl gewesen, zu dem sich sein eitles unbefriedigtes

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