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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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in den Glockenmeeren ihres patriotischen Siegestraumes nichts ahnte. Mit dem vergossenen Blute Stephans, mit dem Tode des einzigen Sohns, den sie dem Armeniervolke geschenkt hatte, war für sie die ganze Welt in Wirklichkeit wieder französisch geworden.

Viertes Kapitel Zerfall und Versuchung
    Am einunddreißigsten Tage des Musa Dagh fand Stephans Begräbnis statt. Am zweiunddreißigsten jedoch trat die große Katastrophe ein.
    Bis zu diesem Tage hatte das Volk der sieben Gemeinden nicht unzufrieden sein dürfen. Während um dieselbe Zeit zwischen Aleppo und Deïr es Zor, in den Engpässen und Talbreiten des Euphrat, auf den Steppen und Wüstenrändern Mesopotamiens schon Hunderttausende Armenier faulten – die Hälfte aller Deportierten beinahe –, waren in der Stadtmulde, in den Stellungen, im Lazarettschuppen und Seuchenwald noch keine zweihundertachtzig Menschen gefallen und gestorben. Im Hinblick auf die blutigen Schlachten, auf Unterernährung, Seuche, Strapaz, Schlafmangel und Entbehrungen aller Art, bewies dieser mäßige Prozentsatz des Todes nicht nur die ungemeine Widerstandskraft der Bergsöhne, sondern auch die Unterstützung des Himmels. Es war höchst merkwürdig, überall wo die Armenier gegen Enver und Talaat rebellierten, griff sofort eine rettende Macht mit unheimlicher Präzision ein und entschied die Sachlage zugunsten der Tapferen. Die Leute des Musa Dagh freilich konnten nicht wie die ost-anatolischen Aufständischen von Wan und Bitlis mit dem Einmarsch der Russen rechnen, die den Todfeind der Armenier, General Dschewjed Pascha, vor sich hertrieben. Das unendliche Land des Islams mit Berg und Steppe umbrandete sie noch erbarmungsloser als das Meer. Und dieses Meer in ihrem Rücken? Es blieb unfaßbar tot, so nach wie vor. Kein Kind gab sich der Hoffnung mehr hin, ein Kriegsschiff werde die syrische Küste passieren. Und selbst, wenn wider alle Vernunft, durch ein unglaubwürdiges Wunder solch ein Kriegsschiff am Horizont erschiene, wer war noch dumm genug anzunehmen, die Schiffswache werde das lächerliche Schnupftuch bemerken, das auf der Schüsselterrasse von einer Stange herabhing? Nun war schon mehr als eine Woche vergangen und die Schwimmer von Alexandrette kamen nicht heim. Man gab sie verloren. Nur einige unheilbare Romantiker versuchten in diesem langen Ausbleiben ein günstiges Zeichen zu sehn.
    Wie dies alles auch immer sein und werden mochte, noch lebte man. Sieben oder acht Verteidigungsabschnitte waren durch die glühende Brandwüste unangreifbar geworden und die übrigen hatte Gabriel Bagradian auf das sinnreichste verstärkt und verändert. Die Türken schienen auch nicht die geringste Lust mehr zu haben, sich in ein Abenteuer einzulassen. In der Orontesebene und im Dörfertal wimmelte es von neuen Truppen und neuen Saptiehs, die den Tag totschlugen. Das feindliche Kommando hatte sich bisher nicht einmal zu einer nachlässigen Belagerung aufgerafft. Vielleicht wagte es nicht, eingedenk der Komitatschigefahr, den Berg im Umkreis zu besetzen, vielleicht erwartete es vorerst die nötige Artillerie. Auch mit der elenden Ernährung hatte sich das Lager bis zu einem gewissen Grade abgefunden. Furchtbar war die Entbehrung des Brotes. Die Weiber jedoch experimentierten mit Ersatzmitteln und Zutaten. Man aß nicht mehr das bloße Fleisch wie zu Beginn. Der magere zähe Happen reichte nicht aus, den Magen zu füllen. Man zerschnitt deshalb das Fleisch in kleine Stücke und kochte es, mit Lauch und gemüseartigen Pflanzen vermengt, in seiner Suppe, wodurch wenigstens große Portionen zustande kamen. Das erfinderische Leben wäre mit diesen Schwierigkeiten noch eine geraume Weile fertig geworden, hätte nicht jener schwere Unglücksschlag allem ein jähes Ende gesetzt.
    Wer trug die Schuld? Nun, diese Schuld konnte niemals ganz aufgeklärt werden. Die verantwortlichen Muchtars schoben sie einer auf den andern. Fest stand nur, daß einer der ersten und wichtigsten Beschlüsse des Führerrates in verbrecherischem Leichtsinn zum Unheil des ganzen Volkes übertreten worden war. Die Muchtars hatten den »neuen Brauch« nicht nur nicht verhindert, sondern sogar wohlwollend geduldet, sie mochten jetzt sagen, was sie wollten, und jammernd immer wieder auf die erschöpften Almen innerhalb der Verteidigungsgrenzen hinweisen, sowie auf die Notwendigkeit, den Herden frisches Futter zu schaffen. Gewiß! Die neuen Weideplätze lagen nicht fernab vom Nordsattel, sie waren auf die denkbar günstigste

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