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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung innerhalb der Lagergrenzen rücksichtslos Sorge zu tragen.
    Der Führerrat war bisher nur selten vollzählig zusammengetreten. In Wirklichkeit hatte ein Triumvirat alle Geschäfte geführt, Gabriel Bagradian den Krieg, Aram Tomasian die innere Verwaltung, während Ter Haigasun als Volksoberhaupt in allen Angelegenheiten die letzte Entscheidung traf. Heute aber in dieser kritischen Stunde erschienen alle Führer, ausgenommen Gabriel Bagradian, der seit dem Begräbnis Stephans den Dreizeltplatz noch nicht verlassen hatte. Pastor Aram war glücklich darüber, Gabriel nicht heute begegnen zu müssen. Diesen hatte ein namenloses Unglück getroffen und der Pastor fühlte sich nicht hart genug, ihn wenige Stunden später schon zur Rede zu stellen. Auch waren die Dinge unlösbar verwickelt. Tomasian hatte sich Howsannahs strengen Wünschen gebeugt, das Zelt samt seinem Inventar dem Verwalter Kristaphor übergeben und das »Babylon« der bisherigen bequemen Wohnstätte verlassen, um mit Frau und Kind in die enge Hütte seines Vaters zu ziehen. In seinem Herzen bedauerte er Howsannah um dieses schlechten Tausches willen. In der Pastorin aber, die noch so viel Sinn für häusliche Schönheit besaß, war eine bissige, ja krankhafte Sucht nach Armut, Dürftigkeit, Härte erwacht. Am schmerzlichsten schlug Arams Gewissen Iskuhis wegen. Er war davon abgekommen, einen Zwang auf das Mädchen auszuüben. Der Grund dafür lag keineswegs in moralischer Duldsamkeit, sondern in der schwierigen Tatsache, daß es für Iskuhi, als Trägerin einer so furchteinflößenden Ansteckungsgefahr keine andere Unterkunft gab als die bisherige. Nach den Vorschriften der Sanitätskommission wäre sie in einer Hütte der Stadtmulde gar nicht geduldet worden. Durch seine eigene Flucht aus dem Zelt aber verurteilte Tomasian seine Schwester zu einer lasterhaften Dreisamkeit mit Gabriel Bagradian und einer Todkranken. Was bisher kaum jemanden befremdet hatte, dem verhalf der Pastor durch seine auffällige Übersiedlung zu gefährlicher Wirklichkeit. Er selbst also machte sich der Erniedrigung seiner trotz allem tiefgeliebten Schwester schuldig.
    Außer Bagradian gab es noch ein Mitglied des Führerrates, das an dieser kritischen Sitzung nicht teilnahm, obgleich es anwesend war. Apotheker Krikor hatte schon am vergangenen Morgen sein Lager nicht mehr verlassen können. Wie formlose Klumpen lagen seine Glieder da und er vermochte keinen Finger mehr zu rühren. Bedros Hekim hatte verzweifelt in seinem ›Handbuch der Medizin für praktische Ärzte‹ geblättert, ohne aus den lateinischen Namen der unzähligen Krankheiten klug werden zu können. Diesmal half ihm der gewöhnliche Trost nicht: Nun, und wenn ich auch den Namen verstünde, wüßte ich dann mehr? Er steckte das Buch wieder ein, als sei alles in Ordnung. Seine grimmige Miene verriet dem Patienten nichts von seiner hilflosen Entmutigung, und schon dadurch bewies er, daß er ein guter Arzt war. Dann verordnete er Wärme, Ruhe und überließ, was die Arzneien betraf, dem Apotheker füglich die Auswahl unter seinen eigenen Giftmischungen. Diesem aber konnten weder Arzneien noch auch Wärme helfen. Das einzige, wonach er sich gierig sehnte, war Ruhe, schmerzlose Ruhe. Doch gerade Ruhe bekam er mit Rücksicht auf seine parlamentarische Behausung nicht geschenkt. Zwischen seinem Schmerzenslager und den Geschäften der Welt hatte er eine hehre Scheidewand aufgerichtet. Hinter dieser, aus seinen Büchern erbauten Mauer hoffte er allein zu sein und dem Lärm entrückt. Doch es zeigte sich wieder einmal, daß kein geistiger Wall der Dichtung, Weisheit, Wissenschaft undurchdringlich genug ist, um den gemeinen Lärm der Politik abzuhalten. Dieser Lärm war heute von allem Anfang an beängstigend. Insbesondere die Muchtars konnten sich nicht genug tun. Sie suchten durch Stimmaufwand und Erregung ihre eigene Schuld zu ertränken. Endlich trat Ter Haigasun in die Mitte des Raumes und befahl, daß sich alles niederlasse. Kaum vermochte er, seine Stimme zu bändigen:
    »Wenn bei einer kriegführenden Truppe«, hob er an, »ein Verbrechen wie dieses geschieht, so werden die Verantwortlichen ohne Gnade erschossen. Wir aber sind nicht irgend ein Militär-Bataillon, sondern ein ganzes, elendes Volk. Und wir führen nicht Krieg gegen einen Feind, der uns gleicht, sondern müssen uns gegen die Ausrottung durch eine hunderttausendfache Übermacht wehren. Nun ermesset das Verbrechen

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