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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Süd-Abschnitt stand, vereinsamt und weit abgelegen, in größter Sonnenferne gleichsam zum Altarplatz und mithin zum Geiste der Ordnung und Führung. Das Volk zeigte eine deutliche Scheu vor diesem Abschnitt. Während zum Beispiel zwischen der Nordstellung und der Stadtmulde stets ein lebhafter Verkehr stattfand, verirrten sich in die Felsen der Südbastion nur selten ein paar Neugierige. Das ließ sich weder durch den langen Weg hinreichend erklären, noch auch dadurch, daß den Deserteuren der Familienanhang fehlte. Hie und da schickte Bagradian eine Inspektion hinaus, die zur Zufriedenheit des Befehlshabers keine besonderen Beobachtungen zu vermelden hatte. Es war klar: die Deserteure mußten ja dankbar sein, in der Volksgemeinschaft Aufnahme gefunden zu haben und, anstatt ihr bisheriges Hundeleben zu führen, regelmäßiges Essen zu erhalten. Wie es freilich um ihre tatsächliche Anhänglichkeit und ihren Opfermut für diese Volksgemeinschaft stand, das wußte niemand und niemand machte sich darüber Gedanken. Die Südbastion war eine Welt für sich. Ihre Besatzung führte ein Leben, dem niemand nachforschte. Sie übernahm es als Gegenleistung für regelmäßige Nahrung, den Abschnitt zu verteidigen, das war alles. Doch auch die Deserteure hatten sich, in Einhaltung dieses ungenannten Vertrages, bisher blutwenig um Stadtmulde, Altarplatz, Führerrat gekümmert und nur selten die Örtlichkeiten des allgemeinen Lebens betreten. Heute, an dem Morgen der schweren Katastrophe, geschah es vielleicht zum erstenmal, daß sie in einigen größeren Haufen ins Lager kamen. Sie verbanden aber mit ihrem Auftreten nicht den geringsten Zweck. Die Witterung »etwas ist los« hatte sie hergetrieben, der ewige Wunsch solcher Existenzen nach Verwirrung und Auflösung, nach dem Nichts, das zugleich das Neue ist.
    Es hatte schon sehr oft auf dem Altarplatz Ansammlungen gegeben, bei denen irgend ein Vorfall des Tageslebens erregt besprochen wurde. Zumeist geschah es am Freitag, wenn Ter Haigasun Gericht hielt und die Parteien unter Teilnahme von Gaffern draußen weiterstritten. Diesmal aber war das Bild sehr verschieden von den größten bisherigen Aufläufen. Noch immer herrschte zwar das weibliche Element vor, doch zeigten sich trotz der Morgenstunde viele Krieger aus der ersten Linie, die auf die Schreckensnachricht in die Stadtmulde geeilt waren. Einen neuen Bestandteil bildete auch Nuniks gebrechliche Schar, die, ohne weiter mit Ter Haigasun darüber zu verhandeln, das Recht des Bleibens in Anspruch genommen und in der Nähe des neuen Friedhofs ihr Lager bezogen hatte. In der Stadtmulde wurde über diesen unwillkommenen Zuwachs von Fressern schrecklich geschimpft. Doch dies half nichts. Man hätte die Bande erschlagen müssen, um sie los zu werden. Jetzt mischte das Bettelvolk seine grauen Farben in das Bild. Auch die Schuljugend, seit dem letzten Kampfe aufsichtslos, spatzendürr, wolfswild, fehlte nicht in ihrer Wolke aus schrillem Lärm.
    In der Wirrnis des allgemeinen Entsetzens gab nicht etwa die unterste Volksklasse den Ton an, nicht die armen Bauern, Knechte, Handwerkergehilfen, sondern ein gewisser mittlerer Stand, den man am ehesten die »kleinen Besitzer« nennen könnte. Diese gebärdeten sich wie toll, warfen ihre Mützen zu Boden, rauften sich die Haare, fuchtelten herum und vollführten wahre Verzweiflungstänze. Ihre Verzweiflung aber galt nicht so sehr dem kommenden Hunger als einem eingebildeten Verlust. Sie schrien, man habe sie um ihr Eigentum, ihr Letztes gebracht. Wer ihrem Jammer glaubte, mußte den Eindruck gewinnen, die Türken hätten Hunderttausende von Schafen erbeutet. Jeder einzelne von diesen kleinen Besitzern berechnete seinen Verlust mit phantastischen Ziffern. Daß die geraubten Herden längst schon Gemeinbesitz waren und daher kein Einzelner etwas verloren hatte, daß ferner der große Viehreichtum der Dörfer zu einem kärglichen Rest zusammengeschmolzen und daß schließlich dieses ganze Wehgeschrei völlig unnütz und verrückt war, das bedachten sie nicht oder wollen sie nicht bedenken. In ihrem jammernden Gehaben offenbarte sich eine krankhafte Mischung von Angst, Wichtigmacherei und Wahn. Es war eine ähnliche Verfallserscheinung wie Oskanians Verrats-Wahn. Das Widersinnige bemächtigte sich immer tückischer der Seelen.
    Das dumpfere Volk, durch den Schlag betäubt, blieb anfangs schwerfällig stumm. Es suchte mit ängstlichen Fragen die Meinung der Berufenen. Erst die kleinen Besitzer

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