Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
Luft. Dabei hatte seine Haltung gar nichts Angespanntes und Gezwungenes. Er bewegte sich, wie es seine Art war, den Kopf ein wenig vorgeneigt, die Hände in den Kuttenärmeln versteckt, abgeschlossen und leicht fröstelnd. Die ersten Schichten des Menschenhaufens waren aus den verschiedensten Typen bunt gemengt: Weiber zumeist, doch auch einige quäkende Kleinbesitzer, ein paar Deserteurfratzen und eine ganze Anzahl von Halbwüchsigen als Hauptanstifter und Genießer der Unruhe. Dies alles wich jetzt vor dem gelassenen Schritt Ter Haigasuns zur Seite. Insbesondere die Weiber konnten sich des bannenden Ehrfurchtsgefühles nicht erwehren, das der Anblick des Priesters in ihnen zu erwecken pflegte. Nurhan Elleon drang mit den Bewaffneten in die Menschenbresche, damit sie sich nicht hinter dem Priester wieder schließe. Dieser Beistand aber war überflüssig. Jeder Schritt des schweigenden Ter Haigasun schuf sich eine freie Gasse. Indem er Staunen erzeugte und in jedes Auge die Frage legte, was will er nur, was hat er vor?, bändigte er durch Neugier jede andre Leidenschaft. So gelangte er gemessenen Tempos zum Altar, auf dessen erster Stufe er sich umwandte, und zwar mit keiner heftigen, sondern mit fast bequemer Gebärde. Dadurch aber war die Menge gezwungen – gottesfürchtige Armeniersöhne und -töchter, allesamt –, ihren Blick auf das heilige Gerüst zu richten, von dem das große silberne Kruzifix, Tabernakel, Kelch, Patene und viele Leuchter herniederfunkelten. Die Sonnenstrahlen fingerten an der hohen Blätterwand entlang, die hinter dem Altar aus Buchsbaumzweigicht errichtet war. Ter Haigasun selbst stand im Schatten, während ihn das Licht gleichsam von zwei Seiten bewachte. Auf ihm ruhte nicht nur die Autorität der Volkswahl, sondern die höhere Autorität der Gottesweihe. Er mußte seine Stimme kaum heben, denn die Neugier hatte auf einmal ringsum tiefe Stille geschaffen.
    »Ein großes Unglück ist geschehen« – er sagte das ohne jede wehleidige Feierlichkeit, fast gleichgültig – »und ihr begehrt gegen das Unglück auf und suchet die Schuldigen, als ob euch das den geringsten Nutzen bringen könnte. Vor dem Aufbruch habt ihr jene Männer gewählt, die nunmehr seit einunddreißig Tagen sich für euch aufopfern, ohne auch nur eine einzige Nacht durchgeschlafen zu haben. Ihr wißt ebensogut wie ich, daß es unter euch keine geeigneteren Männer gibt als sie. Sehr wohl verstehe ich, daß ihr mit unserem Leben unzufrieden seid. Ich bin es auch. Doch ihr habt freiwillig und durch niemanden gezwungen den Entschluß gefaßt, auf den Damlajik zu gehn, und nicht etwa mit dem Pastor Nokhudian in die Verschickung! Reut euch aber dieser Entschluß jetzt – hört mich gut an –, so könnt ihr ihn ebenso freiwillig abändern, wie ihr ihn gefaßt habt. Es gibt ein Mittel …«
    Der Redner machte hier einen kleinen Einschnitt, änderte aber auch bei den folgenden Worten seinen trockenen Ton nicht:
    »Wir haben noch ein Mittel. Ihr, wie ihr da steht, seid die Mehrheit. Doch ich werde auch noch die Leute aus den Stellungen zusammenrufen lassen … Ergeben wir uns den Türken! Ich bin bereit, wenn ihr mich dazu ermächtigt, in eurem Namen noch heute nach Yoghonoluk hinabzusteigen. Wer diesen Wunsch hat, erhebe sofort seinen Arm!«
    In verächtlichem Gleichmut wartete Ter Haigasun zwei volle Minuten. Die Stille blieb lückenlos wie vorher, keine Hand rührte sich. Da erstieg er die oberste Altarstufe und nun dröhnte seine Stimme über den Platz:
    »Ich sehe, nicht ein Einziger will sich ergeben … Nun, dann müßt ihr euch aber klar machen, daß Zucht und Ordnung nicht verletzt werden dürfen! Ruhe muß herrschen, Ruhe, hört ihr, auch wenn wir nichts andres mehr zu fressen haben als unsre Fingernägel. Nur eine einzige Art von Verrat gibt es unter uns, sie heißt Unordnung und Zuchtlosigkeit! Wer diesen Verrat begeht, wird die Strafe erleiden, die dem Verräter gebührt, darauf könnt ihr euch verlassen, ich schwöre es. So, und jetzt ist es höchste Zeit, daß ihr wieder an eure Arbeit geht! Wir werden für euch sorgen. Vorläufig bleibt alles beim alten.«
    Es war die Behandlung ungezogener Kinder; sie erwies sich in dieser Stunde aber als das einzig Richtige. Kein Zwischenruf fiel, kein Hohnwort, kein Vorwurf mehr, obgleich sich durch Ter Haigasuns Rede doch gar nichts verändert hatte. Selbst die Schreier und Wühler schwiegen verblüfft. Die Alternative zwischen Ordnung und Übergabe wirkte wie ein

Weitere Kostenlose Bücher