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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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waren es, die ihre Erregung auf die Menge übertrugen. Mit ihnen mußten die Muchtars den Kampf ausfechten. Ter Haigasun hatte sie vorausgeschickt, damit sie die Suppe auslöffeln. Als Exekutive des Führerrats hatten sie den Verkehr mit dem Volke zu pflegen. Sie kamen aber nicht über den ersten Löffel dieser Suppe hinaus. Von dichten Gruppen eingeklemmt, wurden sie einzeln hin- und hergestoßen, über den ganzen Platz. All ihre Rechtfertigungsversuche gingen in zornigem Gebrüll unter: »Nur ihr seid schuld, ihr allein!« Eine fromme Lüge hätte vielleicht für den Augenblick Erleichterung geschafft. Die Andeutung z.B., es seien, trotz des Unglücks, noch genügend heimliche Nahrungsreserven vorhanden, hätte den alten Leichtsinn wieder belebt; denn ein paar Tage bedeuteten für den Musa Dagh ein unabsehbares Zeitalter. Keiner der Ältesten hatte den rettenden Einfall, der Menge irgend etwas Unverhofftes in Aussicht zu stellen, um sie für diese Stunde wenigstens zu beruhigen. Thomas Kebussjan aber, sonst ein gewiegter Mann, der nun auch den Kopf verlor, griff unter dem Einfluß Lehrer Oskanians zu dem übelsten und. gefährlichsten Mittel, um die Wut auf ein andres Ziel zu lenken. Er warf die Verratsparole unter die Menge. Das Volk hat in guten Zeiten für die Glaubwürdigkeit von Menschen und Worten ein gutes Unterscheidungsvermögen und eine gesunde Skepsis. Lehrer Oskanian war von den Leuten nie besonders ernst genommen worden. Nun aber verhalfen ihm die Muchtars zu einem Erfolg. Dieselbe Masse nämlich, die in gewöhnlichen Zeitläuften sich so entlarvend skeptisch gegen große Worte verhält, wird in katastrophalen Augenblicken ihr Opfer. Dann aber sind es die unbestimmten, die verschwimmenden Begriffe, die am stärksten ansprechen. Das Wort »Verrat« war solch ein Begriff. Die wenigsten verbanden damit die klare Vorstellung eines wirklichen Geschehnisses. Dennoch löste es alle feindseligen Instinkte aus und gab ihnen Richtung, freilich nicht diejenige, welche die Muchtars wünschten. Die Führer, all diese Notabeln und Bonzen, hatten sich verschworen, das Volk aufzuopfern, und dies nur, um sich selbst zu retten. Sie trugen die Schuld, daß man auf den Musa Dagh gezogen war und damit die sichere Vernichtung auf sich genommen hatte. Pastor Harutiun Nokhudian, der ist der einzige wahre Volksfreund gewesen. Er und seine Gemeinde lebte jetzt, schon nach der Umsiedlung, im Osten, ärmlich, aber in ruhigen Verhältnissen. Immer dichter hagelten die Schmährufe gegen den Führerrat. Die Gesellen von der Südbastion drängten sich überall in die Menge, schienen aber die ganze Erregung als eine Art Lustbarkeit zu empfinden, die sie erfreute, aber nichts anging. Dort aber, wo sie standen, stieg die Gärung auf wie Kohlensäureblasen in einem Trank.
    Auch der Beschwichtigungsversuch, den Aram Tomasian jetzt unternahm, schlug fehl. Die leidige Geschichte mit dem Fischfang, der so magere Erfolge gezeitigt hatte, war der »Wahn« und die »fixe Idee« des Pastors. Mochten ihre Aussichten stehn wie immer, es war eine schwere Verkennung der Lage, daß er dieser aufgewühlten Menge jetzt seinen Glauben an das Fischwunder in einer breiten Rede voll genauer technischer Einzelheiten versetzte. Jeder wußte, was dabei bis nun herausgekommen war. Die Ausführungen Tomasians ernteten zuerst Gelächter, dann Hohn, und da er nicht nachgab, ließ man ihn nicht weiterreden. Von irgendwoher mußte jetzt ein Impuls erflossen sein, denn die in Gruppen und Knäueln schwankende Menge schloß sich zusammen und drängte gegen die Regierungsbaracke. Schon sah man nicht nur hochgeschüttelte Fäuste, sondern hie und da Spaten und Krampen in der Luft. Die Männer der Schutzwache wurden bleich und hielten unentschlossen die Gewehre vor sich hin, an deren Läufen sie die erbeuteten Türkenbajonette befestigt hatten.
    Im Innern der Baracke befanden sich außer dem kranken Apotheker nur noch Bedros Hekim, Tschausch Nurhan und der Priester. Ter Haigasun wußte genau, daß nach der Niederlage der Muchtars und Pastor Tomasians alle Autorität gebrochen sei, wenn er selbst sie nicht wiederherstellen könne. Keine Sekunde lang zweifelte er daran, daß ihm dies gelingen werde. Seine Augen, deren Blick aus beobachtender Scheu und kalter Entschlossenheit so eigentümlich gemischt war, füllten sich mit Schwärze. Er trat über die Schwelle, schob die Wachmannschaft auseinander und ging mitten in die Menge hinein, als sähe er sie nicht, als wäre sie

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