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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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kalter Guß auf die entfesselten Gefühle. Noch aber schien die Masse, trotz Ter Haigasuns Aufforderung, nicht daran zu denken, den Altarplatz zu räumen. Auf einen Wink des Priesters bildete Tschausch Nurhan mit seiner Mannschaft eine Kette und drängte, gütlich zuredend, teils mit groben Scherzen, teils mit gröberen Püffen, die Menge zurück und in die Hüttengassen hinein. Freiwillige Helfer schlossen sich der Polizei an. Da Ter Haigasuns Rede die große Aufregung zerbröckelt hatte, gelang die Säuberung des Altarplatzes ohne Schwierigkeit. Das Volk verlor sich in schreienden Gruppen zu seinen Arbeitsstätten und der Alltag schien trotz des Entsetzlichen seinen gewohnten Lauf wieder zu beginnen. Die Wächter riegelten die Gassenmündungen ab, damit keine neue Demonstration die Beratungen störe, die sich ja endlich von allem Gezänke fort- und der mitleidslosen Wirklichkeit zuwenden mußten.
    Noch immer starrte Ter Haigasun vom Altar auf den leeren Platz hinab. Wäre es nicht geraten, eine sehr starke innere Wehrmacht zu schaffen, um bei der geringsten Unruhe mit blutiger Strafe einzuschreiten? Mit einer matten Handbewegung verwarf der Priester diesen Gedanken. Was nützte es, Schrecken zu verbreiten? Mit jedem Tage des wirklichen Hungers mußte die Selbstauflösung unaufhaltsam fortschreiten. Die Türken hatten einen neuen Angriff gar nicht nötig, um ds Ende herbeizuführen. Nun erübrigte sich auch die bange Frage: Wie lange noch? Die Finger einer Hand genügten, um die Antwort auszuzählen. Hilfe konnte nur durch ein Wunder Gottes kommen. Wie auf der vierzigjährigen Wüstenwanderung der Kinder Israels. Aber mit Manna und Wachtelschwärmen war der Himmel selbst dem auserwählten Volke gegenüber nicht verschwenderisch gewesen.
    Noch an demselben Tage jedoch trat ein überraschendes Ereignis ein, das in dem quälenden Auf und Ab von Hoffnung und Verzweiflung den Mut wieder ein wenig belebte. Man hätte dieses Ereignis nicht ganz unzutreffend ein Wunder nennen können, wenn auch ein mißglücktes.
     
    Sogleich nach dem Tode Stephans hatte der Arzt seine Frau von all ihren sonstigen Pflichten befreit und in das Krankenzelt geschickt, damit sie nun Juliettens Pflege voll übernehme. Bedros Hekim brachte damit ein sehr großes Opfer, da die unverwüstliche Antaram den gesamten Dienst im Lazarettschuppen und auch im Epidemiewald leitete. Zu diesem Opfer hatte sich der Gute um Iskuhis willen entschlossen. Durch die lange Pflege und nicht nur durch sie war das Mädchen zum Schatten eines Schattens geworden. Es erschien fast unglaublich, daß ein Wesen mit so wenig Leib sich noch immer so eifrig bewegen und immer noch arbeiten konnte. Welche Widerstandskräfte mußte Iskuhi besitzen, daß sie der Ansteckung trotz allstündlich engster Nähe nicht verfallen war, bisher wenigstens? Ein andrer Grund für Mairik Antarams Entsendung war moralischer Natur. Die verfängliche Dreiheit sollte in eine unverfängliche Vierheit verwandelt werden. Die neue Pflegerin wohnte nun in dem Krankenzelt, während Iskuhi in Howsannahs verlassenes Zelt übersiedelte.
    Juliette gehörte zu jenem Teil der Kranken, deren Herz die Epidemie überstand. Als Gabriel die Gewißheit gewann, daß der Zustand seiner Frau sich zögernd dem Leben zuwende, da erfaßte ihn tiefes Erbarmen mit ihr. Wäre sie in ihren Fieberträumen, die Frankreichs Siegesglocken durchdröhnten, dahingegangen, wäre ihr das Erwachen erspart geblieben, wie glücklich hätte er sie gepriesen. Im übrigen war es um Juliettens Erwachen eigen bestellt. Nach den kritischen Stunden war eine neue Ohnmacht, oder besser eine völlig lethargische Lebensschwäche eingetreten. Während des hohen Fiebers hatte Juliette immer Nahrung zu sich genommen, jetzt aber wehrte sie sich, das heißt, ihr steifer lebloser Körper leistete jeder Fütterung Widerstand. Die energische und kräftige Antaram aber gab nicht nach und zwang geduldig die Elende, alles hinunterzuschlucken, was sie ihr aus Milch und den noch vorhandenen Proviantresten zubereitete. Auch versuchte sie auf alle Arten, durch kalte Wickel und Massage, die Kranke »aufzuwecken«. Es gelang nur langsam. Erst dieser Tag mußte kommen, ehe Juliette stille Augen aufschlug, die nun wieder in die wirkliche Welt zu schauen schienen. Ihr Mund aber schwieg. Sie fragte nichts, sie verlangte nichts. Wahrscheinlich sehnte sie sich in die violette Tiefseewelt der vollen Bewußtlosigkeit zurück, die sie nur ungern verlassen hatte. Mairik

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