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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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geplagt …«
    Vergessen und verworfen waren mit einem Mal die Taten des Kirchenstifters und Schulengründers, dessen Heimatliebe dem Tale von Yoghorioluk weit über seine Zeit hinaus Wohlstand und Segen gespendet hatte.
    Nun aber rührte es sich hinter dem Bücherturm. In dem schmalen Durchschlupf dieser Festung krümmte sich eine ächzende Gestalt im langen weißen Hemd. Krikor von Yoghonoluk, der Junggeselle, trug seit gestern sein Totenhemd. Da er nicht wollte, daß eine Nunik oder die Totengräber ihn mit dem Gewande der Auferstehung bekleiden, hatte er sich, soviel Mühe es auch kostete, diesen letzten Dienst selbst erwiesen, denn er wußte, daß er die Eroberung des Damlajik durch die Türken nicht mehr erleben werde. Seine gelben Wangen hatten so tiefe Löcher bekommen, daß man Fünfpiasterstücke hätte hineinlegen können. Die Schultern waren bis zu den Ohren hochgezogen, Arme und Beine zu gelenklosen Kolben angeschwollen. Als er zwischen den Büchermauern endlich festen Halt gefunden hatte, versuchte er seiner Stimme die gewohnte hohle Gleichgültigkeit des Weisen abzuringen. Doch es gelang ihm nicht mehr. Zitternd und abgerissen kamen seine Worte:
    »Dieser Lehrer hier … ich habe an ihm gearbeitet und gearbeitet … Jahrelang … Das Blut der Gelehrten und der Dichter … habe ich ihm eingeimpft … Ich dachte, weil er begabt ist, kann ein Menschenengel aus ihm werden, einmal … Aber, Irrtum … Wer es nicht ist, kann es nicht werden … Der denkt nicht immer nur an Kot, hab ich gemeint … Aber dieser Lehrer ist viel viel niedriger als die Armen, die nur an Kot denken … Schluß mit ihm … Mein Gastfreund aber … ich habs verschwiegen bisher … Maris hat mir in die Hand versprochen … in Beirût alles für uns zu tun … bei den Konsuln …«
    Krikor konnte vor Schwäche nicht weitersprechen. Oskanian aber fuhr dazwischen:
    »Und woher hat er seine Pässe? … Leeren Reden glaubt ihr und sonnenklaren Tatsachen nicht …«
    Den Muchtars schien ein großes Licht aufzugehn. Ja, woher hat er die Pässe? Pastor Aram sprang auf:
    »Jetzt aber genug, Oskanian! Unerträgliche Narrheit! Eine Stunde ist vergangen und kein Mensch hat ein vernünftiges Wort gesprochen. Und in drei Tagen werden wir nichts mehr zu essen haben …«
    Der schwarze Lehrer wurde von seiner eigenen Bosheit ohne Besinnung fortgerissen. Es war, als müsse er in diesen Minuten alles erbrechen, was sich in seinem ganzen Leben an Haß, Kränkung und Wut angesammelt hatte. Jener Klatsch stieg in ihm hoch, den selbst die ausgepichtesten Matronen nur zu flüstern wagten:
    »Aha, auch der Herr Pastor! Er kann ja nicht anders, seitdem er durch seine Schwester mit Bagradian verwandt ist.«
    Aram wollte sich auf Oskanian werfen, wurde aber von starken Armen zurückgezerrt. Der alte Tomasian, puterrot, schrie auf und schwang seinen Stock. Ter Haigasun aber war schneller als beide Tomasians. Er packte den Lehrer an seinem kragenlosen Hemd:
    »Ich habe dir lange Zeit gelassen, Oskanian, damit du beweist, was zu beweisen war. Jetzt haben wir alle erkannt, woher der ganze Gestank kommt und wer das Gift in die Seelen streut, das ich schon sehr lange spüre. Das Volk hat dich unter die Führer gewählt, weil du ein Schullehrer bist. Ich aber stelle dich dem Volk zurück und werde es aufklären über dich. Und jetzt tu deine Ohren auf! Ich schließe dich von unseren Beratungen aus, für immer!«
    Hrand Oskanian schrie, er nehme diesen Ausschluß nicht zur Kenntnis, da er selbst mit der Absicht hierhergekommen sei, aus diesem Schwätzer- und Greisenverein auszutreten, den das Volk heute oder morgen auseinanderjagen werde, wie er es verdiene. Trotz der rasendsten Wortgeschwindigkeit jedoch, konnte der ehemalige Schweiger seine Rede nicht vollenden, denn Ter Haigasun hatte ihn binnen wenigen Sekunden mit einem prächtigen Fußtritt ins Freie befördert und die Tür hinter ihm versperrt. Eine scheele Stille blieb zurück. Die Muchtars zwinkerten einander zu. In dem diktatorischen Vorgehen des Oberhauptes lag eine Gefahr, die nächstens irgend einen andern treffen konnte. Ein Gewählter durfte doch nur von der gesamten Volksversammlung abgesetzt werden und nicht durch einen Funktionär, auch durch den höchsten nicht. Und während das Gespenst hoffnungslosen Verhungerns Sekunde für Sekunde mit Riesenschritten der Stadtmulde nahte, räusperte sich Thomas Kebussjan, wackelte mit der Glatze und erhob gewissermaßen einen

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