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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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verfassungsrechtlichen Einspruch gegen die Behandlung eines gewählten Mitgliedes des Führerrats. Ter Haigasun habe zwar das Recht der Entscheidung, aber immer erst dann, wenn die Annahme oder Ablehnung eines Antrags vorliege. Zum erstenmal begann sich die Opposition deutlich abzuheben. Außer den Muchtars gehörten zu ihr einige jüngere Lehrer und einer der Dorfpriester, der Ter Haigasun feindlich gesinnt war. Die beiden Tomasians saßen noch immer, vor Zorn und Verlegenheit schwitzend, unsicher im Kreis. Alle andern aber, Ter Haigasun voran, waren, ohne es zu wollen, und zu wissen zur Partei des abwesenden Bagradian geworden, der unsinnigerweise anstatt der großen Katastrophe in den Mittelpunkt der Tagung geraten war. Als Ter Haigasun grob alle weiteren Erörterungen abschnitt, um endlich zur Lebensfrage zu gelangen, da war es schon zu spät. Der verdächtige Lärm auf dem Altarplatz draußen erforderte ein rasches Eingreifen der Führung.
     
    Hrand Oskanian war nur ein schwacher Mann. In einem abendländischen Gemeinwesen hätte man ihn als ausgesprochenen »Intellektuellen« bezeichnen müssen, das heißt als einen durchschnittlich geschulten Menschen, der sich nicht durch Handarbeit ernährt und eine schwankende Seele besitzt, die ihren Platz im Kampf der rohen Gewalten nicht finden kann und, überall zurückgestoßen, sich hungrig nach Macht und Geltung verzehrt. Der Fall Oskanian wäre demnach unter anderen Umständen trotz aller Narrheit ein harmloser Fall gewesen. Hier aber auf dem Damlajik gab er Anlaß zu Bedenklichkeit. Hrand Oskanian stand völlig allein. Und doch hing er mit einer gewissen Welt zusammen, mit einer dunkeln und unbekannten Welt übrigens, die sich erst heute ein wenig bemerkbar machen sollte. Man hatte ihn gewissermaßen zum Regierungskommissär über diese Welt gesetzt. In dieser Rolle mußte er gerade als »Intellektueller« scheitern. Sein Unterliegen bezog sich nicht nur auf Sarkis Kilikian. Der Russe, obwohl der ungekrönte Fürst der Deserteure, war ein schweigsamer Einzelgänger. Wenn er auch immer wieder im Mittelpunkte irgend eines Geschehens stand, so war er doch persönlich untätig wie ein Säulenheiliger und interessenlos wie ein Gast aus dem Jenseits. Auf ihn traf das schöne und traurige Wort »mutterseelenallein« in seiner eisigsten Bedeutung zu. Aber außer Kilikian hatten sich in diesen zweiunddreißig Tagen auf der Südbastion mehr als achtzig Deserteure zusammengefunden, wobei der Ausdruck »Deserteure« bekanntlich in vielen Fällen auch ein weniger ehrenvolles Herkommen decken mußte. Wegen dieses ständigen Zuwachses hatte es sogar Unstimmigkeiten zwischen Ter Haigasun und Gabriel Bagradian gegeben. Dieser meinte nämlich auf keine jugendliche und militärisch ausgebildete Kriegerfaust verzichten zu dürfen, während jener nicht nur die Brauchbarkeit einer erklecklichen Anzahl dieser Gestalten, sondern sogar ihre echte armenische Volkszugehörigkeit in Zweifel zog. »Mögen auch ein paar Räuber unter ihnen sein«, beruhigte Gabriel den Priester, »es sind im Kampf die großartigsten Kerle.« Er dachte dabei an die guten Erfahrungen, die er mit einigen Deserteuren in seiner fliegenden Garde gemacht hatte. Bagradian hätte unbedingt die Pflicht gehabt, für einige Zeit sein Lager unter dieser Besatzung aufzuschlagen, um die schwierige Gesellschaft fest in die Hand zu bekommen. Er aber blieb nach wie vor bei seinen geliebten Elite-Zehnerschaften. Nur seit Stephans Tod sah man ihn auch nicht mehr in der Nordstellung. Vor einigen Tagen war der unfähige Mann aus Kheder Beg mit schwerem Fieber ins Epidemie-Wäldchen geschafft worden. Hrand Oskanian war seither der einzige Träger der Ordnung im Süden. Er ahmte Bagradian nach, indem er unter den Deserteuren schlief und ihr ganzes Leben zu teilen versuchte. Dies aber war durchaus keine leichte Sache. Der schwächliche Knirps mußte sich unablässig dehnen und diesen mit allen Salben geschmierten Gesellen sich anpassen und anbiedern. Er war gezwungen, tagaus, tagein, den verfluchten Kerl zu spielen und ständig über die Verhältnisse seines Körpers und seines Mutes zu leben. Nächst der Verwundung durch Juliette Bagradian war dieser Umgang der Hauptgrund für die sonderbare Entwicklung des kleinen Lehrers, von der sein »revolutionäres« Benehmen im Führerrat eine Probe abgelegt hatte. Er war übrigens äußerst stolz auf diesen Krach und zeichnete sich selbst mit dem Worte »revolutionär« aus.
    Der

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