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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Leben gegen die eigene Natur aufgeschwungen hatte. Und in diesem reinen Minne- und Madonnendienst war er geradezu mit gesetzmäßiger Tücke tödlich verwundet worden. Jetzt kreischte er nicht, sondern entgegnete mit dunkler Würde:
    »Ich brauche die Achtung deiner Französin nicht. Sie braucht vielmehr meine Achtung. Wir haben ja mit eigenen Augen sehen müssen, was das für Menschen sind, bei Gott …«
    Und vollendet demagogisch wandte sich der Knirps an die Muchtars:
    »Ich segne unsre Mütter, unsre Frauen und Mädchen, vor denen solch eine eingebildete Europäerin auf den Knien rutschen müßte.«
    Dieses gutgezielte Stichwort weckte Beifall. Hrand Oskanian aber warf sich jetzt voll auf seinen Gegner:
    »Dir aber, Dummkopf Schatakhian, kann ich mitteilen, daß du dich hundertmal lächerlich gemacht hast mit deinem ›accent‹, deiner ›causerie‹, und der ›conversation‹, deiner affektierten …«
    Er begann Schatakhians selbstgefälliges Französisch, ohne eine eigentliche Sprache, mit näselnden Selbstlauten und knallenden Konsonanten meisterhaft nachzuahmen. Damit war die Beratung, die dem sicheren Hungertode galt, bei der widerlichsten Posse angelangt. Es zeugt von der unausrottbaren Kindlichkeit der menschlichen Art, daß sich ein Teil der Versammlung vor Lachen über Oskanians Kopistenleistung bog. Ter Haigasun, der die heutige Tagung mit einem jähen Panthersprung eröffnet hatte, griff jetzt nicht ein, es war kaum zu glauben. Er schien mit seinem schweigsam geschlossenen Dasitzen einen bestimmten Zweck zu verfolgen und all seine Gedanken und Kräfte zu sammeln. Vielleicht auch wars nur müder Ekel und Gleichgültigkeit, die ihn erfüllten, da es Rettung nicht mehr gab. Bedros Hekim stützte sich brummend an seinem Stock empor:
    »Ich dachte, Ter Haigasun habe uns einberufen, um über das Unglück zu beraten. Für diese deine Vorstellung aber bin ich nicht aufgelegt, Oskanian. Ich habe mehr zu tun als ihr Lehrer, die ihr schon seit langer Zeit selbst die Schule schwänzt, wie ich bemerkt habe. Euer Kindervolk ist auch danach. Dir aber, Oskanian, will ich als Arzt zugute halten, daß du ein armer Irrer bist. Jener junge Mensch ist im März zu uns gekommen. Er hatte einen Empfehlungsbrief an den Apotheker. Um diese Zeit wußte doch nicht einmal der Wali von Aleppo ewas von Deportationen. Ist der Grieche schon etwa damals mit der Absicht zu uns gekommen, die neuen Weideplätze auf dem Musa Dagh den Türken als Spitzel zu verraten, he? Da sieht man, was für logische Köpfe auf dem Lehrerseminar in Marasch erzogen werden!«
    Hrand Oskanian, eine politische Hoffnung, wie es sich heute zeigte, wußte sehr genau, daß ein logischer Fehler seiner Sache nicht schaden könne. Folgerichtiges Denken erfordert Anstrengung, und anstrengen will sich niemand. Wenn man jedoch den Gegner verächtlich macht, so erweckt dies in einer Versammlung befriedigende Lustgefühle, und auf derartige Gefühle kommt es einzig an:
    »Es kann schon sein«, schlug er scharf zurück, »daß du einmal vor fünfzig oder sechzig Jahren Medizin studiert hast, Arzt, aber wer kann das heute noch nachprüfen. Manchmal ziehst du aus deinem alten Buch irgendwelche Würmer. Da kannst du dem Apotheker die Hand reichen. Der hat uns auch jahrelang mit seiner Bibliothek angeschmiert. Was wollt ihr wetten, die Hälfte seiner Bücher besteht aus leerem Papier, schön eingebunden? Vom Leben aber habt ihr alle dieselbe Ahnung, ihr Alten, sonst wüßtet ihr, daß die Regierung schon bei Kriegsbeginn in die armenischen Bezirke Spitzel entsandt hat, und zwar Christen, damit es nicht auffalle …«
    Und er spielte seinen letzten an die Muchtars gerichteten Trumpf aus:
    »Das kommt alles daher, weil diese alten Herren mit der Familie Bagradian verbandelt sind, die solche Leutchen wie unsern Schatakhian hier für ihr Wuchergeld nach Europa schickt. Sind diese reichen Familien nicht an allem Unglück schuld? Sie gehören ja gar nicht zu uns, diese Levantiner! Wegen ihrer unsauberen Geschäfte muß das armenische Volk zugrunde gehn!«
    Damit wurde eine bedeutsame Saite in den bäurischen Seelen berührt. Thomas Kebussjan, fernen Erinnerungen hingegeben, schielte bekräftigend vor sich hin:
    »Schon der alte Awetis war so. Immer nur Geschäfte in Aleppo, in Stambul, in Europa. Bei uns hielt er es keine zwei Monate im Jahr aus. Ich aber habe mich nie fortgerührt. Hätte ich das nicht auch tun können, was glaubt ihr? Die Meinige hat mich genug

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