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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Antaram wollte sie durch allerlei Gerede kitzeln und zurück ins Leben reizen. Entweder aber hatte Juliettens Geist wirklich gelitten, oder setzte sie diesen Bemühungen einen mimosenhaften Stumpfsinn entgegen, der sich jedem Berührtwerden ängstlich entzog. Auch als Gabriel zu ihr trat, veränderten sich ihre Züge nicht, obgleich sie das erstemal ein klares Wachen verrieten. Doch was war mit diesem schönen Gesicht geschehen, nachdem die lebhafte Schminke des Fiebers sich verzogen hatte? Die trockenen Haare hingen herab, farblos wie Asche. Man konnte nicht erkennen, ob sie nur ausgebleicht oder ergraut waren. Die Schläfen bildeten zuseiten der vorgekrümmten Stirn zwei tiefe Mulden. Die Backenknochen linierten einen armen Totenschädel, aus dem nur die plumpe Nase mit rotentzündeter Haut häßlich hervorsprang. Gabriel hielt eine winzige Hand in der seinen, deren Skelett nicht aus Knochen, sondern aus biegsamem Fischbein zu bestehen schien. Und das sollte Juliettens Hand sein, die große, warme, feste? Er wurde diesem fremden, diesem neuentstandenen Menschen gegenüber sehr verlegen:
    »Nun hast du es überstanden, chérie, noch ein paar Tage und alles ist in Ordnung …«
    Worte, vor denen ihm graute. Sie sah ihn an und antwortete nicht. Er konnte in dieser mageren häßlichen Kranken nichts von Juliette wieder erkennen. Alles Vergangene war mit furchtbarer Gründlichkeit aus dem Leben getilgt. Er versucht aufmunternd zu lächeln:
    »Es ist sehr schwierig, aber hoffentlich werden wir dich genügend ernähren können …«
    In ihren Augen stand noch immer das klare und wache Nichts. Hinter diesem Nichts versteckte sich aber dennoch die Angst, seine Worte könnten die gute Kruste durchstoßen, die sie vor dem Einbruch der Welt noch schützte. Juliette schien kein Wort gehört zu haben. Da ging er hinaus.
    Gabriel Bagradian verbrachte nun die meiste Zeit im Scheichzelt. Er vernachlässigte seine Befehlshaberpflichten, weil er keinen Menschenanblick ertrug. Nur Awakian überbrachte ihm dreimal täglich eine Situationsmeldung, die ohne das Zeichen des geringsten Interesses schweigend entgegengenommen wurde. Gabriel trat jetzt fast niemals vor das Zelt. Nur im geschlossenen Raum, in der Finsternis, oder wenigstens im Halbdunkel ertrug er das Leben. Halbe Tage lang ging er auf und ab oder lag auf Stephans Bett, ohne daß ihm auch nur eine Stunde Schlaf geschenkt wurde. Solange der Leichnam des Knaben noch auf der Erde weilte, hatte Gabriel mit höllischer Vergeblichkeit sich sein Bild in den Geist zu rufen versucht. Nun, da Stephan schon einen Tag und eine Nacht unter der dünnen Erdschicht des Damlajik lag, nun kam er ungerufen zu jeder Stunde. Der Vater empfing ihn, regungslos auf dem Rücken liegend. Stephan war in dieser Phase seines Todes durchaus nicht verklärt, sondern brachte jedesmal seinen blutigen Körper mit. Er dachte nicht daran, Papa zu trösten oder gar ihm zu verraten, daß er in seiner Umarmung gestorben sei, ohne viel zu leiden. Nein, er wies ihm jegliche von seinen vierzig Wunden, die breiten Bajonett- und Messerstiche im Rücken, den Kolbenhieb, der sein Genick zerschmettert hatte, und das Gräßlichste, die klaffend durchschnittene Kehle. Der Tote ließ nichts nach, als wolle er vorerst abrechnen, ehe er seinen schmählich mißhandelten Knabenleib zu vergessen gedenke, diesen wohlgeborenen Leib, der nicht dazu bestimmt gewesen, das väterliche Blut auf dem Kirchplatz von Yoghonoluk zu vergießen, sondern es weiterzugeben von Ewigkeit zu Ewigkeit. Gabriel mußte jede dieser vierzig Wunden bis zum Grund ausfühlen. Vergaß er eine, so haßte er sich selbst. Er weckte in sich mit höchster Deutlichkeit das Gefühl des ins Fleisch eindringenden Stahls, wie er brennend die Haut durchschneidet, die Nerven, die Muskeln und furchtbar an den Knochen stößt. Er vergegenwärtigte sich in seinem eigenen Nacken den schmalen Knabennacken, den der Kolben des Mausergewehres zermalmt. Immer wieder begann er mit diesen quälerischen Übungen von neuem und sie waren in ihrer Bestimmtheit noch eine Wohltat gegenüber den nebligen Überfällen des Schuldbewußtseins. Nun war er in seinem Schmerz zu Hause wie ein Blinder in seiner Wohnung, der jeden Winkel und jede Kante unfehlbar ertastet. In diesen Stunden, da Stephan bei ihm zu Besuch war, duldete er auch Iskuhi nicht. Blieb aber der Tote aus, liebte er es, wenn sie bei ihm saß und ihre Hand auf sein nacktes Herz legte. Dann konnte er sogar ein paar Minuten

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