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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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lang schlafen. Er hielt die Augen geschlossen. Iskuhi aber spürte, wie das dumpfe Pochen unter ihrer Hand scheu wurde. Seine Stimme kam von fernher:
    »Iskuhi, womit hast du das verdient? Es gibt soviele, die gerettet sind, die in Paris leben oder wo anders …«
    Sie näherte ihren Kopf der Hand, die auf seiner Brust lag:
    »Ich? Ich habe doch alles Gute und du hast alles Böse. Ich bin glücklich und hasse mich, weil ich jetzt glücklich bin …«
    Er sah sie an, ihr weißes Gesicht mit den großen Augenschatten, das nur mehr der Hauch eines Gesichtes war. Ihre Lippen aber erschienen ihm überaus rot. Er schloß die Augen von neuem, weil alles wieder mit Stephans Gesicht zu verschwimmen drohte. Iskuhi aber zog langsam die Hand von seiner Brust fort: »Was wird geschehen? … Wirst du es ihr sagen? … Und wann? …«
    Er schien zuerst die schwere Frage nicht beantworten zu wollen. Dann aber richtete er sich plötzlich auf:
    »Das hängt von der Kraft ab, die ich haben werde.«
    Gabriel Bagradian bekam sehr schnell Gelegenheit, diese Kraft zu zeigen. Mairik Antaram rief nach ihm und Iskuhi. Juliette hatte sich das erstemal aufzusetzen versucht und einen Kamm verlangt. Als die Kranke Gabriel erkannte, erschraken ihre Augen. Sie suchte ihn mit ihren erhobenen Händen und wehrte ihn zugleich ab. Die Stimme aber in der geschwollenen Kehle gehorchte ihr noch immer nicht:
    »Wir haben doch miteinander gelebt … du … sehr lange …«
    Er strich ihr prüfend über den Kopf. Sie sprach ganz leise, als wollte sie die Wahrheit nicht wecken:
    »Und Stephan … Wo ist Stephan …«
    »Sei ruhig, Juliette …«
    »Werde ich ihn nicht bald sehn dürfen …?«
    »Ich hoffe, daß du ihn bald wirst sehn dürfen.«
    »Und warum … darf ich ihn nicht jetzt schon sehn … Nur durch den Vorhang …«
    »Jetzt kannst du ihn nicht sehn, Juliette … Es ist noch zu früh.«
    »Zu früh … Und wann werden wir wieder beisammen sein, alle … und weg von hier …«
    »Vielleicht schon in den nächsten Tagen … Du mußt noch ein bißchen warten, Juliette.«
    Sie glitt zurück und drehte sich zur Seite. Eine Sekunde lang sah es so aus, als wüchse ein Weinkrampf in ihr. Zweimal überlief ein langes Zucken ihren Körper. Dann aber kehrte in Juliettens Augen wieder der leere und zufriedene Ausdruck zurück, mit dem sie heute zum Leben erwacht war.
    Draußen vor dem Zelte hatte es den Anschein, daß Gabriel, von der scharfen Sonne geblendet, unsicher gehe. Iskuhi stützte ihn mit ihrer gesunden Hand. Er aber stolperte über irgend eine Unebenheit und riß sie im Sturze mit. Stumm blieb er liegen, als lohne es in dieser Welt nicht mehr, sich zu erheben. Doch auch Iskuhi sprang erst auf, als sie Schritte hörte, die sich rasch näherten. Sie erschrak zu Tode. War es der Bruder, der Vater? Gabriel wußte nichts von ihren Kämpfen, die sie ihm verschwiegen hatte. Stündlich erwartete sie einen Überfall durch die Ihren, obgleich sie Bedros Hekim zum Vater geschickt hatte, damit er ihm sage, daß Mairik Antaram ihre Hilfe brauche. Iskuhis Schreck war unbegründet. Nicht die Tomasians kamen, sondern zwei atemlose Boten aus der Nordstellung. Der helle Schweiß lief ihnen über die Wangen, denn sie hatten die lange Strecke in scharfem Trab zurückgelegt. In der größten Erregung keuchten die beiden durcheinander:
    »Gabriel Bagradian … Türken … Türken sind da … Sechs oder sieben … Sie haben eine weiße und grüne Fahne bei sich … Parlamentäre … Keine Soldaten … Ein Alter ist der Führer … Sie rufen herüber, daß sie nur mit Bagradian Effendi und sonst mit niemandem sprechen wollen …«
     
    Mehr als eine Woche war seit der großen Niederlage der Türken schon verflossen. Der verwundete Jüs-Baschi war, den Arm in der Binde, wieder unter den Soldaten zu sehn. Im Umkreis des Musa Dagh lagen so viel reguläre Truppen und Saptiehs wie noch nie. Und doch, es geschah nichts. Auch sprach nicht das leiseste Anzeichen dafür, daß in der nächsten Zeit etwas geschehen werde. Die Männer auf dem Damlajik sahen das lässige Treiben unten im Tal und fanden keine Erklärung dafür, daß man sie trotz der drohend angewachsenen Truppenmacht so auffällig in Ruhe ließ. Den Grund konnten sie auch nicht wissen. Der Kaimakam von Antakje, oberster Leiter der »Liquidation«, war verreist. Dschemal Pascha hatte nämlich sämtliche Walis, Mutessarifs und Kaimakams der syrischen Vilajets in seinem Hauptquartier zu

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