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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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schien völlig fremd, ihm nicht angehörig, wie ein tolles Gerücht. Er verfiel in eine schwerfällige unbestimmte Grübelei, wobei er selbst nur der Mittelpunkt eines wellenartigen Kopfschmerzes war, der ihn umbrandete. Als Gabriel dann schreckhaft auffuhr, hatte sich Iskuhi schon erhoben. Er tastete entsetzt nach seiner Uhr:
    »Wie spät ist es? … Jesus Christus! … Nein, Zeit, Zeit!! … Warum hast du mir die Decke gegeben? … Du zitterst ja vor Kälte … Du hast recht, es ist besser, du gehst jetzt, Iskuhi … Du gehst zu Juliette … Ihr habt noch fünf, sechs Stunden vor euch … Ich werde Awakian rechtzeitig schicken … Gute Nacht, Iskuhi … Tu mir die Liebe und nimm die Decke um … Ich brauche sie nicht …«
    Er hielt sie noch einmal im Arm. Doch ihm wars, als strebe sie fort und sei wesenlos und schattenhaft. Da versprach er noch einmal:
    »Es ist kein Abschied. Wir werden beieinander sein …«
    Als Iskuhi schon eine ganze Weile lang fort war und er sich wieder hinlegen wollte, da fiel ihm die Erinnerung an sie plötzlich schwer aufs Herz. Vor Schwäche hatte sie ja kaum gehn können. Ihre Glieder waren steifgefroren. Ihr gebrechlicher Körper schien kaum mehr vorhanden. War sie nicht krank und hinfällig selbst? Und er hatte sie um Juliettens willen fortgeschickt. Gabriel machte sich Vorwürfe, daß er nicht einmal ein Stück des finsteren tückischen Weges mit Iskuhi gegangen war. Er eilte die halbe Kuppe hinab und rief:
    »Iskuhi! Wo bist du? Wart auf mich!«
    Keine Antwort. Sie war wohl schon zu weit entfernt, um seine Stimme zu hören.
    Der Hüttenbrand knallte und prasselte noch immer laut herüber. Gott weiß, woher das Feuer in dieser Armut die Nahrung hernahm, um bis tief in die Nacht hinein so laut und so geschwätzig zu bleiben. Übrigens hatte es mittlerweile immer mehr von den Bäumen und Büschen ergriffen, die dem Lager zunächst wuchsen. Vielleicht würden die Türken morgen einem zweiten Bergbrand gegenüberstehn. Gabriel lief ein Stück auf den Dreizeltplatz zu. Da er aber Iskuhi weder einholen noch errufen konnte, kehrte er langsam wieder zu den Haubitzen zurück.
    Auf seiner Uhr, die er als einzige Verbindung zur großen Menschheit dort draußen stets mit großer Regelmäßigkeit aufzog, war es noch nicht eins. Er konnte aber nicht mehr schlafen.
     
    Gegen drei Uhr morgens war der Brand in der Stadtmulde zusammengesunken. Nur mehr ein Blaken und Glühen und dann und wann ein aufschießender Blitz meldeten das Geschehene. In den Bäumen freilich gloste es immer weiter, doch war auch hier dem Feuer schon das Ziel gesetzt. Das Glut-Echo am Himmel jedoch überdauerte seine Ursache. Der brandige Fleck wich nicht. Der Nebel hatte sich wohl mit dem Widerschein vollgesogen und hielt ihn fest wie eine wirkliche Substanz. Gabriel weckte um diese Stunde Awakian. Der Student hatte sich auch in der Nähe der Haubitzen hingeworfen. Er schlief so fest, daß ihn Bagradian lange vergeblich schüttelte. Man erkennt die Güte eines Menschen daran, wie er sich verhält, wenn er aus dem Schlaf gerissen wird. Awakian machte ein paar abwehrende Bewegungen, dann hob er verwirrt den Kopf. Sogleich aber, da er den Patron fühlte, sprang er auf und lächelte erschrocken in die Finsternis, als müsse er für seinen tiefen Schlaf um Entschuldigung bitten. Seine Bereitwilligkeit jedoch war stärker als sein Erwachtsein. Gabriel reichte ihm die Flasche, in der er noch einen Rest Kognak hatte: »Hier, trinken Sie, Awakian! … Nur Mut! Ich brauche Sie jetzt. Wir werden keine Zeit mehr haben, miteinander zu sprechen …«
    Sie setzten sich mit dem Rücken zur Stadtmulde, so daß sie undeutlich die Posten der neuen Verteidigungslinie beobachten konnten. Einige von diesen Männern trugen abgeblendete Laternen. Träge bewegten sich diese Lichträtsel hin und her. Die Windstille hielt unverändert an:
    »Ich habe nicht geschlafen, keinen Augenblick«, gestand Gabriel, »habe an vieles zu denken gehabt, trotz dieser Schädelbeule da, die sich verdammt bemerkbar macht.«
    »Schade! Sie hätten schlafen müssen, Effendi …«
    »Wozu? Der Tag, den wir lange genug hinausgeschoben haben, ist da. Ja, ich wollte Ihnen sagen, Awakian, daß die Leute es Ihnen zum großen Teil mitverdanken, wenn die Sache so lange gedauert hat. Wir haben glänzend zusammengearbeitet. Sie sind der verläßlichste Mensch, den ich kenne. Verzeihn Sie das dumme Wort. Sie sind natürlich mehr …«
    Awakian machte eine

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