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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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fünftausend Menschen bedenkt. Selbst in dieser Nacht waren es nur vier dürftige Jünger, die Oskanian als Sektierer seiner Idee folgten. Ein Mann und drei Frauen. Der Mann war fünfzig Jahre alt, sah aber aus wie ein Greis. Er gehörte zu den Seidenwebern von Kheder Beg. Unter allen Handwerkern des armenischen Tales bildeten die Seidenschal-Weber eine eigene Klasse, die wegen ihrer Körperschwäche weder für den Waffendienst noch auch für die harte Arbeit der Reserve so recht zu brauchen war. Wie alle Zukurzgekommenen boten sie jeder verschrobenen Agitation, religiöser und politischer Art, die anfälligsten Seelen dar. Oskanians Freitod-Predigt hatte die Ohren Margoss Arzrunis – so hieß der Seidenweber – höchst bereitwillig gefunden. Von den Frauen war die älteste eine Matrone, die ihre ganze Familie verloren hatte, die beiden andern waren noch jung. Der einen war das Kind vor einem Tag in den Armen verhungert. Die zweite, unverheiratet, aus einer der wohlhabenden Familien Yoghonoluks, kannte man allgemein als schwermütige, etwas wirre Person.
    Oskanian war noch während des Putsches angstgepeitscht an diese verborgene Stätte geflohn. Margoss Arzruni aber, der Apostel des Propheten, hatte ihn aufgespürt und führte nun dem Lehrer die drei gläubigen Frauen zu, die bereit waren, das Wort zu verwirklichen. In Gemeinschaft stirbt es sich leichter als einsam. Der Seidenweber war übrigens einer der unerbittlichen Apostel, die nicht dulden, daß der Prophet ein Jota nachläßt. Seit Tagen schon hatte er den Lehrer regelmäßig in der Südstellung aufgesucht, um die neue Lehre in sich zu vervollkommnen. Die fünf Menschen saßen unter einem der großen Felsblöcke, die den Weg zur Schüsselterrasse verbauen. Weil sie froren, drängten sie sich dicht aneinander. Hrand Oskanian faßte noch einmal seine Ansichten über Tod und Leben zusammen. Sie klangen aber heute merkwürdig eingelernt und fadenscheinig. Auch die bohrende Stimme des Schweigers hatte die Schärfe eingebüßt. Manchmal schien es, als steigre er sich selbst in die Rede hinein, nur um seinen Apostel nicht zu enttäuschen. Oskanian saß neben der Schwermütigen, die ein ziemlich hübsches Mädchen war. Der Verkünder des Freitodes wunderte sich selbst darüber, daß drei Augenblicke vor dem erhabensten Entschluß, dessen ein Mensch fähig ist, die schmiegsame Nähe eines Frauenkörpers so wohlig belebend wirken könne. Dessenungeachtet stand er der Matrone Rede, die sich gläubig bei dem Lehrer, der ja auch dies studiert haben mußte, nach den bedenklichen Jenseits-Folgen solchen Beginnens erkundigte:
    »Es ist eine große Sünde, Lehrer, ganz gewiß. Ich tue es ja nur, um die Meinigen wiederzusehn, rasch wiederzusehn. Aber vielleicht darf ich sie dann gar nicht wiedersehn und bleibe für immer in der Hölle, weil es doch ganz gewiß eine große Sünde ist …«
    Oskanian hob seine spitze Nase, die in der Finsternis leuchtete:
    »Du gibst nur der Natur wieder, was dir die Natur gegeben hat.«
    Dieser bedeutungsvolle Satz schien Arzruni, dem Seidenweber, ein höllisches Vergnügen zu bereiten. Er rieb die Hände und krähte aus schwacher, aber voller Brust:
    »Da hat er es dir aber gesagt, Alte … Wenn du die Deinigen wiedersehn willst, kannst du ja noch bis morgen warten. Die Türken werden dich nicht übersehn. Dich braucht keiner mehr für den Harem. Ich aber will nicht warten, ich habs satt!«
    Die Matrone kreuzte beide Hände über der Brust und neigte sich vor:
    »Jesus Christus wird mir verzeihn … Gott weiß alles …«
    Der Lehrer bekam damit ein vorzügliches Stichwort:
    »Gott weiß alles«, schrie er, »der einzige Grund, weswegen man ihm die Welt verzeihen könnte, wäre der, daß er nichts, aber auch gar nichts weiß … Er kümmert sich um uns so viel wie um Läuse. Verstanden? Da hätte er auch viel zu tun …«
    Der Apostel Arzruni wiederholte höhnisch berauscht:
    »Da hätte er auch viel zu tun … Das ist doch klar … Wie Läuse …«
    Der Prophet aber wandte sich, von seinem eigenen Scharfsinn ganz erschöpft, an die sündenfürchtige Matrone:
    »Wie soll er sich um dich kümmern, da er doch nur ein Blödsinn in deinem eignen Kopf ist …«
    Der Seidenweber blinzelte einen Augenblick angestrengt, dann aber schrie er vor Entzücken laut auf, schlug seine Schenkel und begann sich hin und her zu drehn wie ein betender Moslem:
    »Nur in deinem Kopf ist der ganze Blödsinn, Alte … Verstehst du das? … Nur in

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