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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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gedacht. Seine erste angsterfüllte Frage war:
    »Und Juliette? Was ist mit Juliette?«
    Iskuhi hatte sich mit dem Aufgebot ihrer letzten Körperkräfte hierhergeschleppt. Alle Geschehnisse waren für sie in Nebel zergangen. Nur Eines brannte unausgesetzt in ihr: Warum kommt er nicht? Warum hat er mich verlassen? Warum ruft er mich nicht in der letzten Stunde? Seine Frage nach Juliette aber hatte ihre Fragen kalt erwürgt. Sie schwieg und es dauerte recht lange, bis sie sich wieder fand und mit stockenden Worten über alles berichtete, was sich auf dem Dreizeltplatz begeben hatte, über den Raubanfall, über Schuschiks Tod und die Verwundung des Pastors. Bedros Hekim habe Juliette vergeblich dazu überreden wollen, sich von Kework hinab zum Meere tragen zu lassen. Juliette aber wolle dies nicht und schreie, sie werde sich nicht aus ihrem Zelte fortrühren. Doch auch der verwundete Aram liege noch im Zelt … Gabriel blickte immer in die rote Himmelslache, die nicht blässer wurde:
    »Es ist ganz gut so … Vor dem Morgen wird es zu nichts kommen … Zeit genug … Eine Nacht im Freien könnte Juliette töten …«
    Etwas in diesen Worten tat Gabriel weh. Er knipste an seiner Taschenlampe. Nun aber gab die letzte verbrauchte Batterie kaum soviel Licht mehr wie ein Glühwurm. Trotz der tragischen Röte dort oben und den noch immer aus der Stadtmulde aufschießenden Flammen schien ihm diese Nacht finstrer zu sein als alle früheren. Er konnte Iskuhi neben sich kaum wahrnehmen. Leise tastete er nach ihrem Gesicht, nach ihrer Gestalt und erschrak, wie eisig und abgezehrt ihre Wangen und Hände waren. Zärtlich wallte es in ihm auf. Er nahm die Decke und hüllte das Mädchen ein:
    »Wie lange hast du schon nichts gegessen, Iskuhi?«
    »Vorhin hat uns Mairik Antaram etwas gebracht«, log sie, »ich habe genug …«
    Gabriel drückte Iskuhi fest an sich, das Halbschlaf-Gefühl ihrer Nähe wieder suchend:
    »Es war so merkwürdig schön, als ich vorhin neben dir aufgewacht bin … Wie lange schon hab ich dich nicht bei mir gehabt, Iskuhi, Schwesterchen … Jetzt bin ich sehr glücklich, daß du gekommen bist … Glücklich bin ich jetzt, Iskuhi …«
    Ihr Gesicht sank langsam gegen das seine, als sei sie zu schwach, ihren eigenen Kopf zu tragen:
    »Du bist nicht gekommen … Da bin ich gekommen … Es ist doch schon so weit, nicht wahr?«
    Seine Stimme klang dunkel wie aus dem Schlaf:
    »Ja, ich glaube, es ist schon so weit …«
    Aus Iskuhis Worten sprach ein erschöpftes und doch trotziges Auf-ihrem-Recht-Bestehen:
    »Du weißt ja, was wir besprochen haben … was du mir versprochen hast … Gabriel …?«
    Er nahm sich aus einer fernen Verlorenheit zurück:
    »Vielleicht liegt noch ein langer Tag vor uns …«
    Mit einem tiefen Atemzug wiederholte sie diese Worte, als seien sie ein Geschenk:
    »Ein langer Tag noch …«
    Immer wärmer umfing sie sein Arm:
    »Ich hab eine große Bitte an dich, Iskuhi … Wir haben ja oft darüber gesprochen … Juliette ist viel ärmer und unglücklicher als wir beide …«
    Sie bog ihre Wange vom Gesicht des Mannes weg. Gabriel aber nahm ihre kranke Hand, streichelte und küßte sie immer wieder:
    »Wenn du mich lieb hast, Iskuhi … Juliette ist so unmenschlich einsam … unmenschlich einsam …«
    »Juliette haßt mich … Sie kann mich nicht ertragen … Ich will sie nie wieder sehn …«
    Seine Hand spürte den Krampf, der sie erschütterte:
    »Wenn du mich lieb hast, Iskuhi … Ich bitte dich, bleib bei Juliette … Ihr müßt bei Sonnenaufgang die Zelte verlassen … Ich werde ruhiger sein … Sie ist am Wahnsinn und du bist gesund … Wir werden uns wiedersehn … Iskuhi …«
    Ihr Kopf sank vor. Sie weinte lautlos. Da flüsterte er:
    »Ich hab dich lieb, Iskuhi … Wir werden beieinander sein …«
    Nach einer Weile versuchte sie aufzustehn:
    »Ich gehe jetzt …«
    Er hielt sie fest:
    »Jetzt noch nicht, Iskuhi! Jetzt mußt du noch bei mir bleiben. Ich brauche dich …«
    Langes Schweigen. Er fühlte seine Zunge schwer und unbeweglich im Mund. Der scharf pochende Kopfschmerz wuchs. Der flugleichte Schädel verwandelte sich in eine riesige Bleikugel. Gabriel sank in sich zusammen, wie von einem andern Kolbenhieb gefällt. Sarkis Kilikians stumpfe Augen sahen ihn mit apathischem Ernst an. Er erschauerte vor sich selbst. Wo lag der Russe? Hatte er den Befehl gegeben, die Leiche fortzuschaffen? Alles, was in diesen letzten Stunden geschehen war,

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