Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
Haubitzschuß entlud sich zugleich die unermeßliche Spannung in der Seele des Feuerwerkers. Aus welchem Grunde begann der umsichtige Feldherr des Damlajik seine unersetzlichen Granaten zu verpulvern, noch ehe der türkische Angriff ins Rollen gekommen war? Wollte er den Feind wecken oder schrecken? Wollte er den Eigenen Mut machen? Hoffte er mit diesem Feuer unter den türkischen Kompagnien derartige Verheerungen anzurichten, daß sie nicht mehr vorzuschwärmen wagen würden? Nichts von alledem! Gabriel Bagradian löste den ersten Schuß aus keinem taktischen Grunde, sondern nur, weil er das Warten nicht länger ertrug. Es war sein Schmerz- und Trotzruf, halb ein Hilfe- und halb ein tragischer Jubelschrei, weil die Nacht zu Ende war. Doch nicht nur er, all die entkräfteten und krummgefrorenen Männer der Schützenlinie empfanden gleich ihm. Sie horchten mit verzerrten Gesichtern auf die Antwort, die nun kommen mußte. Die vorgeschobenen Posten erklommen die nächste Höhe, um einen weiteren Ausblick zu haben. Doch so weit sie die Faltungen der Hochfläche übersehen konnten, lag der Damlajik tot vor ihnen. Noch schienen die Türken ihre Grundstellung nicht verlassen zu haben, auch im Norden nicht. Aber die Antwort kam. Einige Zeit verging, ehe sie erfolgte, und Bagradian konnte in dieser Frist noch zwei Schüsse lösen. Dann krachte der tiefe, ungeheure Donnerschlag. Niemand verstand ihn. Hoch oben erhob sich ein Eisenrauschen, das die Gebirge vom Amanus bis zum El Akra zu erfüllen schien. Der Einschlag polterte fernab. Es mußte in der Orontes-Ebene sein. Der große Donner aber hatte sich von der See her erhoben.
    Noch während der Nacht – die Dorfgemeinden hatten die nackten Lagerstätten zwischen Klippen und Felsen der Steilseite ohne bestimmte Ordnung bezogen – gab Ter Haigasun den Muchtars den Befehl, sie möchten Lehrer Hrand Oskanian tot oder lebendig herbeischaffen. Die Seele des Priesters war nur von einem einzigen glühenden Bedürfnis erfüllt, das geschändete Gesetz, die ruchlos verratene Gemeinschaft an dem Verantwortlichen zu rächen. Und verantwortlich war für Ter Haigasun der Lehrer, »der Kommissär«, vielleicht mehr noch als Sarkis Kilikian. Der Priester war leidenschaftlich bereit, dem schwarzen Knirps mit eigenen Händen das Leben stückweise aus dem Leibe zu reißen. Noch niemals hatte die Welt den gelassenen Ter Haigasun in einer ähnlichen Verfassung gesehen. Er hockte unter den Familien von Yoghonoluk, die auf mehreren grasigen und waldigen Stellen entlang des Serpentinenweges lagerten. Ter Haigasun gab niemandem eine Antwort und hielt den Kopf bis zu den Knien gebeugt. Manchmal aber straffte er sich hoch, warf die Fäuste in die Luft und stieß ungeheuerliche Flüche aus, während die Wut-Tränen ihm über das fieberrote Gesicht rannen. Thomas Kebussjan saß auf einer geretteten Decke und wackelte blödsinnig mit der Glatze. Neben ihm keifte die Muchtarin mit verrückten Fisteltönen. Er selbst sei schuld an diesem Ende. Wäre er rechtzeitig nach Antakje ins Hükümet gefahren, so hätte der Kaimakam mit der steinreichen und hochangesehenen Familie Kebussjan selbstverständlich in der zuvorkommendsten Weise eine Ausnahme gemacht. Jetzt säße man friedlich in einem angenehmen Häuschen der Stadt auf einer efeu-umklammerten Holzveranda. Kebussjan nahm weder die Vorwürfe der Frau zur Kenntnis, noch auch den Befehl des fieberkranken Priesters. Wen hätte er auch aussenden sollen, um den Lehrer zu verhaften? Was es an Wächtern und halbwegs beweglichen Leuten in der Stadtmulde noch gegeben hatte, war Gabriel Bagradian gefolgt.
    Lehrer Hrand Oskanian aber hielt sich in der Nähe der Schüsselterrasse versteckt. Er war nicht allein. Die Anhänger seiner Selbstmord-Religion hatten sich ihm zugesellt. (In diesen Wochen und Monaten gab es unter der armenischen Nation so manchen Selbstmordpropheten gleich Oskanian und Tausende von Selbstmördern. Der ganze Volkskörper wand sich unter dem Mördergriff. Da wurden auch solche vom Tode erfaßt, die sich in Sicherheit befanden. Nicht nur flüchteten Hekatomben von Frauen in den reißenden Euphrat, auch in den europäischen Großstädten gab es Armenier genug, die in geheimnisvoller Verbundenheit ihrem Leben ein Ende machten.) Auf dem Musa Dagh aber war es bisher zu keinem einzigen Selbstmordfall gekommen. Wunderbar genug, wenn man das zerstörte Dasein, die tägliche Todesgefahr, den unentrinnbaren Ausgang, das langsame Verhungern von

Weitere Kostenlose Bücher