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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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andre ist die Strafe. Du mußt die Schuldigen töten, Bagradian!«
    Gabriel sah ihn stumm an. Ich werde Kilikian nicht finden, dachte er. Nach und nach hatten sich die zusammengesunkenen Menschen wieder erhoben. Es begann nun ein todestrunkenes Durcheinander. Die Muchtars, die Dorfpriester, zwei von den Lehrern stießen und schubsten ihre Gemeinden in Haufen zusammen. Alle ließen alles mit sich geschehn. Selbst die Kinder schrien nicht mehr. Bedros Hekim entfernte sich heimlich, um wenigstens jene Kranken der beiden Lazarette in Sicherheit zu bringen, die sich bewegen konnten. Das Unglück gab diesem hinfälligen Wrack von altem Menschen Riesenkräfte.
    Gabriel Bagradian überließ die Auflösung des Lagers Ter Haigasun. Keine Sekunde durfte mehr versäumt werden, denn wer weiß, wie weit sich die Türken trotz der Nacht vorwagten. Die Haubitzen waren in Gefahr. Auch das Lumpenpack der Deserteure bildete ein großes Fragezeichen. Vorwärts! Jetzt galt es nicht, die Lage genau durchzudenken, sondern einfach zu handeln, blind und entschlossen. Gabriel packte alles zusammen, was sich an Bewaffneten und Halbbewaffneten, an Jungen und Alten um ihn versammelt hatte. Selbst die kleineren Buben mußten mit. Windstille war eingetreten. Der scharfe Holzqualm drückte auf die Menschen nieder. Der Gestank von verbrannten Stoffen mischte sich drein. Man konnte kaum atmen, die Augen tränten. Gabriel gab den Aufbruchbefehl. Er und Schatakhian, der sich mittlerweile eingefunden hatte, schritten der breit entwickelten Schützenlinie voran. Hinter ihnen trabten die müden Männer, hundertfünfzig an Zahl, darunter ein Drittel Sechzigjährige. Und diese elende, verhungerte Gesellschaft sollte vier kriegsmäßige Kompagnien mit Maschinengewehren, unter dem Kommando von einem Major, vier Hauptleuten, acht Oberleutnants, sechzehn Leutnants siegreich zurückwerfen? Es war gut, daß Bagradian die Stärke des Feindes nicht kannte. Doch wäre sie ihm auch bekannt gewesen, er hätte nicht anders handeln können. Sein Kopf wurde immer größer und empfindlicher. Die Beine hingegen hatten jedes Gefühl verloren. Es war ihm, als ging er neben sich selbst.
    Auf dem Wege zur Haubitzkuppe kam die Schar an dem großen Friedhof vorbei. Das Gräbervolk hatte seine Sachen nach alter Gewohnheit bei den Toten verstaut. Nun waren Nunik, Wartuk, Manuschak und die andern alle in eifriger Bewegung, um die prallen Säcke mit den muffigen Altertümern aufzuhucken. Sato half ihnen dabei. Die Übersiedlung schien dieses Volk weiter nicht aus der Fassung zu bringen. Die beiden letzten Gräber gehörten Krikor und dem Bagradiansohn. Krikors Grab war nach seinem Willen durch keinerlei Zeichen kenntlich gemacht. In Stephans Hügel stak ein rohes Holzkreuz. Der Vater ging daran steif vorüber, ohne es mit einem Blick zu streifen. Die Nacht war nun vollkommen. Das Brandlicht aber wölbte sich wie eine rote Kuppel über den Damlajik. Man hätte meinen können, eine große Stadt brenne und nicht ein paar hundert laubgeflochtene Hütten und einige Baumgruppen.
    Mittwegs aber, dort wo die grasige Kuppe der Haubitzstellung schon anzusteigen begann, geschah etwas ganz Unerwartetes. Gabriel und Schatakhian blieben stehn. Die schlapp hinter ihnen trottende Schar warf sich zur Erde. Eine Linie von Bewaffneten lief die Höhe herab. Man sah nur Silhouetten, die mit den Gewehren gegen die Kommenden erregte Zeichen machten. Die Türken!? Die meisten suchten in der Finsternis irgend eine Deckung. Die Schattenbilder aber, die sich vom Brandhimmel zuckend abhoben, kamen zaghaft näher. Dreißig Männer waren es ungefähr. Gabriel bemerkte, daß sie einen Gefesselten vor sich herstießen. Er ging ihnen entgegen. Die Leute hatten Laternen bei sich. In fünf Schritt Entfernung erkannte er in dem Gefesselten Sarkis Kilikian. Ein Teil der Deserteure. Sie warfen sich vor Bagradian platt nieder, die Erde mit der Stirn berührend. Ur-Gebärde der Sühne und Zerknirschung. Was gab es da noch zu reden und zu rechtfertigen? Der Ausweg war ihnen abgeschnitten. Die Stricke, mit denen Kilikian gebunden war, bildeten den Beweis, daß sie das Ungeheuerliche bereuten, einen Sündenbock darbrachten und jegliche Strafe entgegennehmen wollten. Einige häuften mit beinahe kindischer Hast den Raub zu Gabriels Füßen. Unter den gestohlenen Sachen befanden sich auch die Munitionsverschläge, sowie alles aus den Zelten Entwendete. Gabriel aber sah nur Kilikian. Der Gefesselte war von seinen Leuten auf die

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