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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Knie gerissen worden. Sein Kopf lag im Nacken. Im dünnen Feuerzwielicht waren seine Züge gut erkennbar. Aus den ruhigen Augen Kilikians sprach ebensowenig der Wunsch, weiterzuleben, wie der Wunsch, zu sterben. Sie betrachteten ihren Richter ohne jede Erregung. Bagradian neigte sich tiefer zu diesem grauenhaft schweigsamen Gesicht hinab. Auch in diesem Augenblick noch konnte er den Hauch achtungsvoller Zuneigung nicht unterdrücken, der ihn angesichts des Russen jedesmal befiel. War Kilikian, dieser gespenstische Zuschauer, der wahrhaft Schuldige? Gleichviel! Gabriel Bagradian entsicherte den Armeerevolver in seiner Tasche. Dann hob er ihn schnell gegen die Stirn des Russen. Der erste Schuß versagte. Kilikian hatte die Augen nicht geschlossen. Seine Nasenflügel und der Mund zuckten. Es war wie ein unterdrücktes Lächeln. Bagradian aber dünkte es, als habe er den versagenden Schuß gegen sich selbst gerichtet. Als er das zweitemal abdrückte, war er so schwach, daß er sein Gesicht abwenden mußte. So fiel Sarkis Kilikian, nach einem unfaßbaren Leben zwischen Gefängniswänden – nachdem er als Knabe dem türkischen Massaker und als Mann der türkischen Hinrichtungs-Salve entronnen war – zuletzt durch die Kugel eines Volksgenossen.
    Gabriel Bagradian winkte den übrigen Deserteuren knapp, sich dem Haufen anzuschließen.
     
    Zwei der reuigen Lumpen hatten sich anheischig gemacht, die Stellung der türkischen Truppen genau auszuforschen. Sie kamen mit einem Bericht zurück, der die arge Wahrheit noch übertrieb. Vielleicht vergrößerte der klägliche Gemütszustand der Gesellen, die ihre Strafe erwarteten, die Tatsachen, vielleicht auch wollten sie durch die Schilderung der feindlichen Riesenmacht ihre eigene Schuld verringern. Denn wie hätten, auch ohne das große Verbrechen, die wenigen Deserteur-Zehnerschaften der schlauen Umgehung durch das türkische Militär standhalten können? Bagradian sah an den Kundschaftern vorbei und sagte kein Wort. Er wußte, daß ein großer Teil der Schuld auf seiner Seite lag. Er hatte sich nicht warnen lassen und die Neueinteilung des Verbrecherpacks versäumt.
    Samuel Awakian war mit den Mannschaften der Überfallsgruppe längst zu Gabriel gestoßen. Eine Stunde kostete es und dann dehnten sich ein paar schüttere Schwarmlinien in zwei Reihen quer über die Kuppe und die faltenreiche Bergfläche bis in die Buschwerkzone und die Felsen hinein. Auch die tapferen Männer der Nordstellung waren ans Ende ihrer Kräfte gelangt. Was konnte man da von den alten Leuten der Reserve fordern? Hingeworfen wie morsches Holz lag jeder auf der Stelle, wohin man ihn befohlen hatte, ohne zu wachen, ohne zu schlafen. Der Befehl, aus Steinen und Erde eine Deckung für den Kopf aufzuschichten, wurde kaum mehr befolgt. Nachdem Gabriel von Mann zu Mann die ganze hoffnungslos lange Front abgeschritten war und vor dieser Front noch eine lose Postenkette aufgestellt hatte, begab er sich zu den Haubitzen. Er hatte jeden Punkt des Damlajik im Kopf, jede Distanz und jede Ortsbeschaffenheit. Er konnte daher die Schußelemente für den Raum der Südbastion in seinem Notizbuch genau bestimmen.
    Nach diesem wüstenheißen Tage war die erste herbstliche Nacht eingebrochen, in der plötzliche Kühle herrschte. Gabriel saß allein bei den Geschützen, deren Bedienung er schlafen geschickt hatte. Awakian verschaffte ihm eine Decke. Aber er wickelte sich nicht ein, denn sein Körper brannte und sein Kopf drohte fortzufliegen, als sei er zu leicht. Gabriel streckte sich aus, ohne zu wachen, ohne zu schlafen. Seine Augen stierten in den roten See oben am Himmel. Der Brandspiegel schien immer tiefer und größer zu werden. Eine melodische Frage setzte sich in seinem erschütterten Kopf fest: Wie lange brennt schon der Altar? Dann aber mußte er eine ganze Weile nichts mehr von sich gewußt haben, denn etwas in seiner Nähe weckte ihn. Es war keine Hand, keine Stimme, sondern nur eine Nähe. Doch gerade der Augenblick des Gewecktwerdens, ein märchenhaft langer Augenblick voll tiefer Erfahrungen, tat ihm so mütterlich wohl, daß er sich gegen das volle Erkennen wehrte. Die Einheit des Erschöpften mit der Nähe neben ihm war in dieser kurzen Spanne so groß, daß ihn Iskuhis Wirklichkeit dann beinahe leicht enttäuschte, brachte sie doch das Bewußtwerden des Unentrinnbaren mit sich. Bei ihrem Anblick fiel ihm mit tiefem Schreck Juliette ein. Er hatte seine Frau eine Ewigkeit lang nicht gesehn und kaum an sie

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