Die vierzig Tage des Musa Dagh
dumpfem Wirbeln die ganze Stadt. Zahlreiche Amtsboten folgten ihnen, welche die Ältesten und Notabeln Zeituns zu einer »Konferenz mit dem Mutessarif und dem Platzkommandanten über die Lage« einzuladen hatten. Die Berufenen, fünfzig der angesehensten Männer, Ärzte, Lehrer, Priester, Großhändler, Unternehmer, erschienen ohne Verzug an Ort und Stelle, die meisten sogar noch in ihrem Arbeitsgewand. Nur wenige Ahnungsvolle hatten Geldmittel zu sich gesteckt. Die Konferenz bestand darin, daß man diese bejahrten und gewichtigen Männer auf dem Kasernhof von rohen Unteroffizieren zusammentreiben und abzählen ließ wie Vieh. Die Sache habe nun ein Ende, hieß es, und noch heute würden sie zwecks ihrer »Umsiedlung« über die Linie Marasch-Aleppo den Weg in die mesopotamische Wüste nach Deïr es Zor antreten. Die Männer sahen einander stumm an, keiner bekam einen Anfall, keiner weinte. Vor einer halben Stunde noch achtunggebietende Prachtgestalten, wurden sie mit einem Schlag zu mattbelebten Erdklößen, fahl und ohne Willen. Der neue Muchtar, ihr Sprecher, bat mit versagender Stimme nur um eine Gunst: Man möge doch um der göttlichen Barmherzigkeit willen ihre Familien in Frieden und in Zeitun lassen. Dann würden sie ihr Los mit Fassung ertragen. Die Antwort fiel grausam höhnisch aus: Nein, keineswegs, man kenne ja die Armenier zur Genüge und niemand denke daran, würdige Familienväter von ihren liebenden und geliebten Angehörigen zu trennen. Es sei vielmehr verfügt, daß jeder von ihnen die Seinigen schriftlich anweise, morgen zwei Stunden nach Sonnenaufgang mit Sack und Pack zum Abmarsch gestellt zu sein, Weiber, Söhne, Töchter, Kinder, groß und klein. Der Befehl von Stambul laute dahin, daß die gesamte armenische Bevölkerung bis zum letzten Säugling umgesiedelt werde. Zeitun habe damit zu bestehen aufgehört, denn von nun an heiße es »Sultanijeh«, damit keine Erinnerung an einen Ort übrigbleibe, der es gewagt habe, dem osmanischen Heldenvolk zu trotzen.
Am nächsten Tag zur anbefohlenen Stunde ging wirklich der erste gramvolle Transport ab und eröffnete damit eine der furchtbarsten Tragödien, die je zu einer geschichtlichen Zeit über ein irdisches Volk hereingebrochen ist. Militärische Bedeckung folgte den Ausgetriebenen und es zeigte sich auf einmal, daß der mächtige Heerbann, den man zur Belagerung der Flüchtigen aufgeboten hatte, einen kleinen, aber um so pfiffigeren Nebenzweck besaß. Täglich am Morgen wiederholte sich nun das gleiche herzzerreißende Spiel. Den fünfzig vornehmsten Familien folgten hundert weniger vornehme, und mit der sinkenden Gesellschaftsklasse und Wohlhabenheit nahm die Zahl der Abgefertigten zu. – Gewiß, in den riesigen Etappengebieten der europäischen Kriegsfronten wurden alle Städte und Dörfer ebenfalls ausgesiedelt, aber so schwer dieses Los auch für die Heimatberaubten zu tragen war, es läßt sich mit dem der Zeitunlis nicht vergleichen. Die Evakuierten des Krieges wurden zu ihrem eigenen Schutz aus der Todeszone weggeführt. Selbst im Feindesland ließ man ihnen Pflege und Hilfe angedeihen. Sie verloren die Hoffnung nicht, binnen einer traurigen, aber absehbaren Frist wieder heimkehren zu dürfen. Den Armeniern winkte kein Schutz, keine Hilfe, keine Hoffnung. Sie waren keinem Feinde in die Hände gefallen, der aus Gründen der Gegenseitigkeit das Völkerrecht achten mußte. Sie waren einem weit schrecklichem, einem ungebundenen Feind in die Hände gefallen: dem eigenen Staat.
Manchen stimmt schon das Wechseln seiner Wohnung traurig. Ein verlornes Stück des eigenen Lebens bleibt immer zurück. Für jedermann ist es eine große Entscheidung, seine Stadt mit einer andern, sein Lebensland mit einem neuen zu vertauschen. Selbst der Gewohnheitsverbrecher legt den Weg in die Gefangenschaft, ins Gefängnis schwer zurück. Aber rechtloser als ein Verbrecher sein, der doch noch den Schutz des Gesetzes genießt! Ausgetrieben werden von einem Tag zum andern, aus der Wohnstätte, von der Arbeit, aus dem im jahrelangen Fleiß Geschaffenen! Dem Haß überliefert! Ungerüstet auf asiatische Landstraßen geworfen, abertausende Meilen Staub, Stein und Morast vor sich! Zu wissen, man werde nie wieder ein menschenwürdiges Nachtlager finden, nie wieder an einem menschenwürdigen Tisch essen und trinken. Dies aber ist noch nichts. Unfreier sein als ein Sträfling! Zu den Verfemten, den Vogelfreien gehören, die jeder ungestraft töten kann. Eingepfercht in ein
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