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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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leider eine ganz verfehlte Haltung. Der Bimbaschi liebte es nämlich, wenn sich weinerliche Kreaturen vor ihm wanden. Dann war er bereit, ein Auge zuzudrücken, Vergünstigungen zu gewähren und ein guter Mensch zu sein. Die Sicherheit Arams aber erstickte dieses Wohlwollen, das aus dem Gegensatz seiner eigenen Größe zu dem bittflehenden Wurm entsprang:
    »Sie sind der protestantische Pastor Aram Tomasian, gebürtig aus Yoghonoluk bei Alexandrette.«
    Der Oberst grollte diesen Steckbrief herunter, ehe er sein Opfer anfuhr:
    »Sie haben morgen mit dem letzten Transport abzugehn! In der Richtung Marasch–Aleppo! Verstanden?«
    »Ich bin bereit!«
    »Ich frage Sie nicht, ob Sie bereit sind … Ihre Frau und sonstige Familie geht mit. Sie dürfen keinerlei Gepäck mitnehmen, das Sie nicht selbst zu tragen imstande sind. Sie erhalten nach Maßgabe der Möglichkeit als Verpflegung im Tag hundert Direm Brot. Das übrige käuflich zu erwerben, steht Ihnen frei. Jedes eigenwillige Verlassen der Kolonne wird durch den Transportkommandanten bestraft, im Wiederholungsfalle mit dem Tode. Die Benutzung von Fuhrwerk ist verboten.«
    »Meine Frau erwartet ein Kind«, sagte Aram leise.
    Dieses Bekenntnis schien den Bimbaschi zum Spott zu reizen:
    »Das hätten Sie vorher bedenken müssen.«
    Dann warf er einen neuerlichen Blick in seine Papiere:
    »Die Zöglinge des Waisenhauses sind als armenische Kinder selbstverständlich von der Umsiedlung nicht ausgenommen. Sie haben pünktlich und vollzählig gestellt zu sein, sie und das gesamte Personal der Anstalt.«
    Pastor Aram trat einen kurzen Schritt zurück:
    »Darf ich fragen, ob für diese hundert unschuldigen Kinder gesorgt werden wird? Es sind sehr viele unter zehn Jahren darunter, die niemals noch einen längeren Fußmarsch zurückgelegt haben. Und Kinder brauchen Milch.«
    »Sie haben keine Fragen zu stellen, Pastor«, schrie der Oberst, »sondern meine Befehle entgegenzunehmen. Sie befinden sich seit einer Woche im Kriegsgebiet.«
    Wäre Tomasian unter diesem Gebrüll zusammengesunken und in Furcht erstorben, die Bimbaschi hätte ihm vielleicht von seiner befriedigten Höhe herab die Ziegen zugebilligt. Der Pastor aber fuhr in ruhiger Hartnäckigkeit fort:
    »Ich werde also die Ziegenherde unseres Hauses dem Transport nachtreiben lassen, damit die Kinder ihre gewohnte Milch erhalten.«
    »Sie werden Ihr freches Maul halten, Pastor, und sich unterwerfen.«
    »Ich werde ferner Sie, Effendi, für das Schicksal des Waisenhauses verantwortlich machen, das unverletzliches Eigentum amerikanischer Staatsbürger ist, die unter dem Schutz ihres Botschafters stehn.«
    Der Bimbaschi fand zuerst kein Wort. Die Drohung hatte wahrscheinlich gewirkt. Dergleichen Götter werden schnell kleinlaut, wenn höhere Götter in Sicht kommen. Nach einer längeren, für einen Oberst ziemlich schmachvollen Pause bebte er:
    »Wissen Sie, daß ich Sie vertilgen kann wie ein Ungeziefer. Ich brauche nur zu hauchen, und Sie haben nie gelebt!«
    »Ich werde Sie daran nicht hindern«, erwiderte Pastor Aram, und er meinte seine Worte ernst, denn ein ungeheurer Todeswunsch hatte ihn überwältigt.
    Wenn man Aram, Howsannah, Iskuhi fragte, welcher Zeitpunkt der Ausweisung für sie der schrecklichste gewesen sei, so antworteten alle drei: »Der Augenblick, bevor sich unser Transport in Bewegung setzte.« Es war ein Augenblick, in dem das tatsächliche Elend nur halb so stark sprach wie eine traumartige Zerschlagenheit, eine uralte Grauens-Erfahrung des Blutes, das sich vielleicht an dumpfe Urzeiten vor der errungenen Seßhaftigkeit und Rechtssicherung erinnern mußte. Eine Masse von tausend Menschen, ehrlos und hilflos zusammengeschweißt, fühlte jetzt nicht nur den endgültigen Verlust alles Eigentums und die beginnende Gefahr des Lebens, sie fühlte sich darüber hinaus als Gesamtheit, als Volkheit um die Aufstiegsmühe und den Kulturertrag von Jahrtausenden gebracht. Pastor Aram und die beiden Frauen waren von dieser allgemeinen und unergründlichen Schwermut mitumfangen.
    Ein dunkler Tag mit niederhängendem Gewölk, in dem die Berge von Zeitun ihre vertrauten Häupter verbargen; für den Marsch weit günstiger als sonniges Wetter. Und doch schien die äußere Trübnis des Tages die Rücken der Ausgestoßenen tiefer zu beugen als die Lasten, die ihnen bewilligt worden waren. Der erste Schritt war etwas sehr Großes, etwas Heilig-Entsetzliches, das jede Seele durchzuckte. Die Familien drängten sich dicht

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