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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Freudigkeit, die eher auf das friedliche Glück seines eigenen Lebens als auf eine geistesscharfe Beurteilung der Regierungsabsichten schließen ließ.
    Der Schlag traf ihn so furchtbar, daß er taumelte. Er sah sein Werk verloren. Doch dann faßte er wieder die eitle Hoffnung, die Regierung werde nicht den Mut haben, das Waisenhaus zu schließen. Aram sammelte sich schnell. Ein Wort Howsannahs gab ihm noch am ersten Tag der Verschickungen seine Kraft wieder. Nur in solchen Augenblicken wie dem jetzigen erfülle sich der Sinn christlichen Priestertums aufs höchste. So sprach die Pastorentochter. Eingedenk solcher Mahnung spannte Aram Tomasian seine Energie übermenschlich an. Nicht nur hielt er seine Kirche Tag und Nacht offen, um den einzelnen Austreibungsgruppen auf ihren Dulderweg geistliche Kräftigung mitzugeben; er ging von Haus zu Haus seiner Pfarrkinder, von Familie zu Familie, trat unter die Weinenden, half mit all seinen Geldmitteln, organisierte in den Zügen eine gewisse Ordnung, schrieb Hilferufe an alle Missionen, die auf der Verschickungsstraße lagen, drechselte Bettelbriefe an türkische Beamte, die er für wohlwollend hielt, er verfaßte Eingaben und Zeugnisse, er versuchte für manche Personen einen Aufschub zu erwirken, er handelte mit türkischen Maultierbesitzern Preise aus, kurz er tat alles, was sich in dieser grauenhaften Lage tun ließ, und wenn er nichts tun konnte, nicht einmal mehr mit den Leiden des Evangeliums trösten, da setzte er sich stumm zu den Schmerzversteinerten, schloß die Augen, krampfte die Finger ineinander und schrie in seiner Seele zu Christus.
    Die Stadt wurde von Tag zu Tag leerer, während sich die Landstraße nach Marasch mit langen Menschenschlangen füllte, die nicht vorwärts zu kommen schienen. Von der Zitadelle oben hätte ein Beobachter sie weit in die Berge hinein verfolgen können und nichts hätte sein Grauen tiefer erregt als die schleichende Stille dieser Todeszüge, die durch das Grölen und Lachen der bewaffneten Schergen nur noch grausamer gesteigert wurde. Die ausgestorbenen Gassen Zeituns belebten sich inzwischen mit den Totenvögeln der Austreibung, mit Zufallsplünderern und Berufsdieben, mit der Stadthefe und mit räuberischen Umwohnern. Sie bezogen die verlassenen Häuser oder besuchten sie zumindest. Sofort setzte ein schwunghafter Speditionsverkehr ein. Leiterwagen und Karren fuhren auf, Lastesel zotteten heran. Gemächlich wurden Teppiche, Kleider, Wäscheberge, Bettstellen, Möbel, Spiegel auf das Fuhrwerk und die Tragtiere verladen, als handle es sich um eine rechtmäßige Übersiedlung. Die Behörden wehrten diesem Treiben nicht. Sie schienen sogar dem türkischen Bodensatz – sofern nur die Verjagung der Armenier klaglos verlaufe – damit stillschweigend eine Prämie zu gewähren. Es erinnerte fast an ein barbarisches Märchen, daß von jeglichem Handwerk je sechs Vertreter in »Sultanijeh« zurückbleiben mußten, damit das treibende Wrack des Alltags nicht ganz ohne Bemannung sei. Diese Glücklichen bestimmte aber nicht die Obrigkeit, sondern der Gemeinde lag es selbst ob, die Auswahl zu treffen, eine ausgewitzte Strafverschärfung, denn sie prüfte die Gemüter mit neuen Qualen.
    Der fünfte Tag war bereits angebrochen und Pastor Aram hatte noch keine Vorladung erhalten. Nur ein mohammedanischer Mollah, ein Stadtfremder übrigens, war bei ihm erschienen, die Kirchenschlüssel einzufordern. Die protestantische Kirche werde, wie er höflich mitteilte, bis zum Abendgebet in eine Moschee umgeweiht sein. Dennoch erstarb die Hoffnung in Tomasian nicht, man werde das Waisenhaus in Ruhe lassen. Er befahl, daß von nun an alles zu Hause zu bleiben habe, niemand dürfte sich sehen lassen, kein Kind und kein Lehrer. Er verfügte ferner, daß auch tagsüber die Fensterläden geschlossen zu halten seien, daß bei Nacht kein Licht gemacht werden dürfe und kein lautes Wort zu fallen habe. Über das so lebensvolle Haus senkte sich eine angestrengte Ausgestorbenheit. Gerade solche Gottesfopperei aber fordert die Aufsässigkeit des Schicksals heraus. Am nächsten Tage, dem sechsten, überbrachte einer der Amtsboten, die wie Todesengel schrecklich die Stadt durcheilten, dem Pastor die Aufforderung, sich unverweilt zum Stadtkommandanten zu begeben.
    Aram erschien im geistlichen Gewande. Sein Gebet war erhört worden. Nicht eine Spur von Angst und Erregung erniedrigte ihn. Er trat dem Stabsoffizier aufrecht und mit Ruhe entgegen. Das war in diesem Fall

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