Die vierzig Tage des Musa Dagh
aneinander. Kein Wort, nicht einmal ein Kinderweinen war zu hören. Doch schon nach einer halben Stunde, als das letzte Vorstadthaus hinter dem Volke lag, wurde es besser. Die ursprüngliche Kindheit der Menschen, ihr rührend-vergeßlicher Leichtsinn gewann für einige Zeit die Oberhand. Wie aus der ersten Dämmerung ein einzelnes bescheidenes Zwitschern aufwacht, und schon fällt das ganze Chor ein, so lag bald über der Wanderung ein dichtes Geflecht zackiger Kinderstimmen. Beruhigende Mahnungen der Mütter. Auch die Männer riefen einander dies und jenes zu. Stellenweise konnte man schon ein geducktes Lachen hören. Viele Frauen und ältere Leute saßen auf Eseln, die man zugleich mit Bettzeug, Decken und Säcken beladen hatte. Der begleitende Offizier duldete es. Er schien die Härte der Ausführungsbefehle auf eigene Verantwortung und Gefahr mildern zu wollen. Auch Aram hatte für seine Frau einen Reitesel besorgt. Sie ging aber meist nebenher, da sie die Bewegung des Reitens fürchtete. Obgleich es klüger gewesen wäre, sie an der Spitze traben zu lassen, bildeten die Waisenkinder die Nachhut des Transportes. Hinter ihnen kam nur mehr die Ziegenherde, die der Pastor unbekümmert und ohne Rücksicht auf jenes Gespräch dem Zuge hatte nachtreiben lassen. Die Kinder empfanden das Ganze anfangs als eine vergnügliche Abwechslung und als ein rechtes Abenteuer. Iskuhi, die sich zu ihnen hielt, schürte diesen Frohmut, so gut sie nur konnte. Niemand hätte ihr Aufregungen und schlaflose Nächte angesehen. Auf ihrem Gesicht lag Gegenwartsfreude und Lebenslust. So zart und schwach ihr Körper auch schien, die allmächtige Anpassungskraft der Jugend hatte alles überwunden. Sie versuchte sogar, unter den Kindern ein Lied in Schwung zu bringen. Es war ein schönes Lied aus Yoghonoluk. Die Menschen dort sangen es bei der Arbeit im Weinberg und in den Obstgärten. Iskuhi hatte es in der Schule von Zeitun eingeführt:
»Die Unglückstage ziehen vorbei
Gleich den Tagen des Winters, sie kommen und gehn.
Die Schmerzen der Menschen bleiben nicht lang,
Wie die Kunden im Laden, sie kommen und gehn.«
Aram Tomasian aber eilte sofort herbei und verbot das Singen. Der junge Pastor legte den Weg der anderen zweimal und dreimal zurück. Er tauchte bald bei den vordersten Gruppen auf, dann wieder bei den Nachzüglern, immer mit seiner großen umgehängten Kürbisflasche, die er allseits zu einem Rakitrank anbot. Auch er verströmte guten Mut, machte Witze, schlichtete Meinungsverschiedenheiten und versuchte auch für den gegenwärtigen Zustand eine Lebensform zu finden, in dem jedermann irgend eine Aufgabe zufiel. Unter den Handwerkern zum Beispiel hatten die Schuster die Pflicht, schadhaftes Schuhwerk während der Rasten schnell auszubessern; und ähnliches mehr. Obgleich sich in dem Transport nur wenige Protestanten befanden, war Tomasian der einzige Geistliche. Sämtliche gregorianischen und katholischen Priester waren nämlich bereits in den beiden ersten Verschickungstagen abgegangen. Der Pastor hatte somit die Pflicht, für alle Seelen zu sorgen. Er verfolgte eine eigene Taktik, um die Kräfte der Ausgetriebenen wachzuhalten. Unerträglich ist nur das Ziellose, er wußte es von sich selbst. Darum wiederholte er im Tone der heitersten Zuversicht immer dasselbe:
»Morgen abends kommen wir nach Marasch. Dort wird sich alles ändern. Wahrscheinlich werden wir dort längere Zeit untergebracht werden, bis der Befehl einlangt, daß wir heimkehren dürfen. Und wir werden heimkehren, das ist so gut wie sicher. Die Regierung in Stambul kann mit dem, was hier geschieht, nicht einverstanden sein. Wir haben ja schließlich Abgeordnete und eine Nationalvertretung. Auch werden die Konsuln einen großen Lärm schlagen. In zwei, drei Wochen kann alles wieder gut sein. Das Wichtigste aber ist, daß ihr mir gesund nach Marasch kommt, und daß ihr stark und munter bleibt.«
Solche Reden wirkten befreiend, auch auf diejenigen, die entweder von Natur Schwarzseher waren oder zu klug, an die Unschuld der Zentralregierung zu glauben. Verfallene Gesichter hellten sich auf. Nicht nur das günstige Zukunftsbild tat Wunder, sondern das Ziel, die bestimmte, festumrissene Aussicht: Morgen sind wir in Marasch. Bei der großen Rast erwies sich der junge Offizier, der die türkische Begleitmannschaft befehligte, als ein prächtiger Mensch. Nachdem die Soldaten abgekocht hatten, stellte er dem Pastor aus freien Stücken die Kochkiste der Truppe zur
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