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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ein Recht, nicht umgekehrt. Warum etwas tun wollen? Alles Wirken ist in sich selbst schon verwirkt, das Denken aber denkt ewig. Krikor wußte nicht, was kommen werde. Er war jedoch willens, unter jeder Bedingung des Lebens, alles Zufällige, Gleichgültige, Unwesentliche, und sei es auch die härteste Veränderung, an sich abgleiten zu lassen. Zur Bekräftigung dieses wahrhaft philosophischen Ideals, dem er noch in und durch seine letzte Stunde zu dienen hoffte, wies er auf ein türkisches Sprichwort hin, das ebensogut in den Mund des alten Agha Rifaat Bereket gepaßt hätte: »Kismetdén zyadé olmass! Nichts geschieht, was nicht prädestiniert ist.« In diesen Worten tat sich die Gelegenheit auf, die quälende Tagesfrage zu verlassen und das Gespräch auf jene erhabenen Dinge hinzulenken, die, der zeitlich-gehässigen Teilnahme längst entzogen, so kühl sind wie die Buchseiten, in denen sie ein göttliches Leben führen. Und die hohle Stimme des Apothekers verbreitete sich über die unterschiedlichen Prädestinationslehren, über das Verhältnis des Christentums zum Islam, über Gregor den Erleuchter, über das Konzil von Chalcedon und über den Vorrang der monophysitischen Lehre gegenüber der römisch-katholischen Anschauung. Schon die Worte allein berauschten. Der Priester sollte nur staunen, wie weit es ein Apotheker in der Theologie gebracht hatte. Er bekam auch die Namen, Daten und seltsamen Lehrmeinungen einiger Kirchenväter zu hören, von denen er in seiner Studienzeit nichts vernommen hatte, einzig darum, weil sie dem schöpferischen Ingenium Krikors ihr Dasein verdankten.
    Zum Verzweifeln! Gabriel stampfte unhöflich auf. Jetzt haßte der Europäer in ihm all diese Schläfer und Schwätzer, die wehrlos im Tode versanken wie sie im Schmutz umkamen. Er unterbrach Krikor mit einer verächtlichen Handbewegung:
    »Ich möchte den Herren dringend eine Idee vorlegen, die mir heute eingefallen ist, während ich mit dem Saptieh Ali Nassif sprach. Ich bin schließlich noch immer türkischer Offizier, Frontkämpfer, besitze die Auszeichnungen aus dem letzten Balkankrieg. Was würden Sie davon halten, wenn ich mir meine Uniform anziehe und nach Aleppo reise? Dem General Dschemal Pascha habe ich vor Jahren einmal eine Gefälligkeit erwiesen …«
    Der alte Arzt fiel ihm beinah schadenfroh ins Wort:
    »Dschemal Pascha hat sein Hauptquartier längst schon nach Jerusalem verlegt.«
    Bagradian ließ sich nicht abbringen:
    »Macht nichts! Wichtiger als Dschemal Pascha ist Djelal Bey, der Wali. Ich kenne ihn nicht, wir aber wissen alle von ihm, wer er ist und daß er uns nach Kräften helfen will. Wenn ich nun bei ihm erscheine, daran erinnere, daß der Musa Dagh abseits der Welt liegt und wir schon deshalb nichts mit irgend einer Politik zu tun haben können, vielleicht …«
    Gabriel sprach nicht weiter und horchte in das ungerührte Schweigen. Nur das Wasser in Krikors Nargileh gluckste dann und wann. Es dauerte recht lange, ehe Ter Haigasun seinen Tschibuk zur Seite legte:
    »Der Wali Djelal Bey« – er sah prüfend vor sich hin – »ist gewiß ein großer Freund der Nation. Er hat uns einige Wohltaten erwiesen. Unter seiner Regierung war auch das Ärgste nicht zu befürchten. Leider aber ist ihm seine Freundschaft sehr wenig gut bekommen …«
    Ter Haigasun zog aus seinem weiten Ärmel eine zusammengefaltete Zeitung:
    »Heute ist Freitag. Der ›Tanin‹ vom Dienstag. Die Nachricht ist kleingedruckt und steht an einer unauffälligen Stelle.« Er hielt die Zeitung weit vor die Augen: »Wie aus dem Ministerium des Innern mitgeteilt wird, ist S. E., der Wali von Aleppo, Djelal Bey in den dauernden Ruhestand versetzt worden. – Das ist alles.«

Fünftes Kapitel Zwischenspiel der Götter
    Die homerischen Helden kämpfen um das skäische Tor und jeglicher von ihnen wähnt, daß Sieg oder Niederlage seinen Waffen anheimgegeben sei. Der Kampf der Helden aber ist nur eine Spiegelung des Kampfes, den über ihren Häuptern die rufenden Götter führen, um das menschliche Los zu entscheiden. Doch selbst die Götter wissen nicht, daß auch ihr Streit nur den Kampf spiegelt, der längst ausgetragen ist in der Brust des Höchsten, aus dem die Ruhe und Unruhe quillt.
     
    Gerade in dem Augenblick, da Doktor Johannes Lepsius, den Kutscher seiner Droschke antreibend, die große Brücke erreicht, die von der Gartenstadt Pera hinüber nach Stambul führt, setzt sich das automatische Glockenzeichen in Bewegung, der Schlagbaum

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