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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ähnliche Augen gehabt. Und vielleicht liebt Lepsius darum dieses Volk so sehr. In die Augen des Patriarchen, des armenischen Erzpriesters der Türkei, hat er noch vor einer Stunde geblickt, das heißt, er hat seinen Blick immer wieder von den hoffnungslos brennenden Augen dieses Monsignore Sawen abwenden müssen. Übrigens ist der Besuch beim Patriarchen an der Verspätung schuld. Es war jedenfalls ein Wahnsinn, daß er noch einmal nach Hause, nach Pera ins Hotel Tokatlyan gefahren ist, um sich umzukleiden. Gut, er mußte beim Patriarchen im langen schwarzen Rock erscheinen, wie es sich für einen protestantischen Geistlichen geziemt. Bei Enver wollte er aber gerade diese Eigenschaft nicht hervorkehren, ja er suchte für diese schicksalschwere Begegnung jede feierliche Anspielung zu vermeiden. Er kannte die Leute von Ittihad, seine Gegenspieler. Ein grauer Straßenanzug, ein nachlässiger Sprechton, sicheres Auftreten, Andeutung von Mächten, die hinter ihm stehn, das war die richtige Art, mit Hasardeuren umzugehn. Und nun war der graue Straßenanzug an allem Unheil schuld.
    Er hätte bei dem Patriarchen sich nicht so lange verweilen, sondern nach einigen Minuten verabschieden sollen. Leider aber ist die pedantische Zielstrebigkeit nie seine Stärke gewesen. Selbst sein armenisches Hilfswerk nach den Metzeleien unter Abdul Hamid hat er weniger durch vernünftige Politik als durch leidenschaftliches Türeneinrennen geschaffen. Nicht umsonst frönte er hie und da noch immer dem Jugendlaster des Dichtens: ›Totentanz‹, ›Der ewige Jude‹, ›John Bull‹ und so ähnlich. Improvisation, Abhängigkeit vom Augenblick, das ist sein Fall, er weiß es. Und so hat er sich heute nicht losreißen können von dem rührenden Priester. »Sie werden in einer Stunde vor Enver stehn« – der leisen Stimme des Monsignore Sawen merkte man die Kette der schlaflosen Nächte an, sie starb gleichsam mit ihrem Volk dahin. »Sie werden vor diesem Menschen stehn. Gott segne Sie. Aber auch Sie werden nichts erreichen.«
    »So mutlos bin ich nicht, Monsignore«, hatte Lepsius zu trösten versucht. Eine entsagungsschmerzliche Handbewegung aber schnitt ihm das Wort ab. »Wir haben heute in Erfahrung gebracht, daß nach Zeitun, Aïntab, Marasch usw. nun auch die Deportation über die ostanatolischen Vilajets verhängt ist. Außer dem Westen von Kleinasien bleibt also bisher nur Aleppo und der Küstenstrich von Alexandrette verschont. Sie wissen besser als jeder andere, daß die Deportation ein verschärfter und in die Länge gezogener Foltertod ist. Von den Bewohnern Zeituns soll niemand mehr am Leben sein.« Die Augen des Patriarchen hatten Johannes Lepsius jeden Einspruch verboten: »Lassen Sie das Unmögliche bleiben und konzentrieren Sie sich auf das Mögliche! Vielleicht gelingt es Ihnen, ich glaube es nicht, einen Aufschub für Aleppo und den Küstenstrich zu erwirken. Jeder Tag ist ein Gewinn. Pochen Sie auf die deutsche Öffentlichkeit und die Zeitungen, die von Ihnen unterrichtet werden. Vermeiden Sie vor allem eines: Moralisieren Sie nicht! Das lockt diesem Menschen nur Hohn hervor! Bleiben Sie bei den politischen Tatsachen! Drohen Sie mit der Wirtschaft, das verfängt am ehesten. – Und jetzt empfangen Sie meinen Segen, lieber Sohn, für Ihr edles Werk! Christus sei mit Ihnen!« Lepsius hatte den Kopf gebeugt, der Patriarch aber schrieb ein großes Kreuz über seine ganze Brust.
    Nun aber sitzt er da, in der schwerfälligen Barke auf den Wellen des Goldenen Horns treibend, der Schiffer stößt seine Ruder ungerührt bedachtsam ins Wasser, und als sie endlich anlegen, sind mehr als zwanzig Minuten vergangen. Mit dem ersten Blick sieht Johannes Lepsius, daß auf dem Standplatz nicht eine Araba wartet. Er lacht verzerrt vor sich hin, denn hinter dieser ausgesuchten Reihe raffinierter Hindernisse verbirgt sich mehr als Zufall. Gegnerische Mächte werfen ihm Prügel zwischen die Beine, weil er sich in die armenische Sache mengt, die wohl ihren ungehemmten Lauf nehmen soll. Er schaut sich auch nach keiner Droschke mehr um, sondern beginnt, so groß, alt und auffallend er auch ist, zu laufen. Damit kommt er nicht weit. Die Plätze und Gassen des alten Stambul sind von einer gewaltigen, festfeiernden Menge erfüllt. Unter den beflaggten Häusern, an buntgeschmückten Läden und Cafés vorbei, schieben und stoßen sich Tausende mit Fez oder Tarbusch, schreiende, fanatisierte Gesichter. Was ist geschehen? Hat man an den Dardanellen die

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