Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
Madame …«
    Und dann geschah, was weder in der furchtbaren Woche von Zeitun geschehen war, noch in den Tagen des Transportes und der Reise. Aus ihren Augen strömten die Tränen. Es war kein krampfhafter Erguß, es war ein Weinen ohne Schluchzen, ein Weinen gleichsam ohne Berg und Tal, eine Auflösung der Starrnis, etwas Weites und Trostloses wie das Steppenland dort im Osten, woher sie kam. Während Iskuhi regungslos weinte, stieß sie immer wieder die gleichen Worte hervor:
    »Verzeihen Sie, Madame … Ich habe das nicht gewollt …«
    Juliette hätte sich am liebsten zu Iskuhi hingekniet, sie geküßt und einen Engel genannt. Irgend etwas aber machte jede gewöhnliche Zärtlichkeit unmöglich. Die Entrückung, die das Mädchen noch immer umhüllte, das Erlebte, in dem sie noch immer verpuppt war. Juliette konnte ihrem warmen Impuls nicht gehorchen. So begnügte sie sich damit, ihre Hand leicht über Iskuhis Haar zu führen und schweigend am Kopfende des Bettes zu warten, bis der Stumm-Weinenden die Augen zufielen und sie in der gütigen Leere versank.
    Mairik Antaram hatte indessen Satos Fußwunden behandelt und verbunden. Dann wurde die Kleine in einer der Dienerkammern zu Bett gebracht. Kaum aber war sie in tiefen Schlaf verfallen, als sie markerschütternde Schreie auszustoßen begann. Während sie in all diesen Tagen niemals ein Zeichen der Angst von sich gegeben hatte, schienen in der Traum-Wiederholung des Lebens hundert Peitschen auf sie niederzusausen. Es half nichts, daß man sie immer wieder beutelte. Sie schlief unerweckbar und nach einer Weile begann das Ächzen und gellende Kreischen wieder von neuem. Manchmal klang dieses lange Heulen, als klammere es sich verzweifelt an einen hilfreichen Namen an: Kütschük Hanum!
    Während die grausigen Laute aus der entfernten Kammer drangen, traf Juliette ihren Sohn, der gerade die große Haustreppe heraufkam. Stephan glühte. Das Neue, das Unbekannte, das Drohende erfüllte ihn mit reizvollen Wallungen. Er hatte im November seinen dreizehnten Geburtstag gefeiert, kam demnach in das Alter, in dem Sensationen alle Knabenseelen begeistern. Auch große Gewitter und Wolkenbrüche beobachtete er vom Fenster mit dem sträflich funkelnden Wunsch, irgendetwas außer der Ordnung möge geschehen. Jetzt horchte er, wohlig entsetzt:
    »Hörst du, Mama, wie Sato schreit?«
    Iskuhis Augen, mein Kind hat Iskuhis Augen, durchfuhr es Juliette und die abgründige Verstrickung des Lebens wurde ihr einen Blitzschlag lang bewußt. Das erstemal packte sie eine große Angst um Stephan. Sie zog ihn in ihr Zimmer, preßte ihn an sich, während die fernen Schreie Satos noch immer das stille Treppenhaus durchhallten.
     
    Am späteren Abend hatte Gabriel Bagradian den Priester Ter Haigasun, den Arzt Bedros Altouni und den Apotheker Krikor zu sich gebeten. Die Herren saßen allein in dem schwach beleuchteten Selamlik bei Tschibuk und Zigaretten. Gabriel wollte aus diesen drei hochgebildeten und sehr würdigen Notabeln herausbringen, wie sie die Dinge wirklich sahen, wie sie im Falle eines Ausweisungsbefehles zu handeln gedächten und welche Mittel der Siedlung am Musa Dagh zur Verfügung standen, um das tödliche Unheil abzuwenden. – Er brachte gar nichts heraus. Ter Haigasun schwieg beharrlich. Der Arzt erklärte, er sei schon achtundsechzig alt und die zwei, drei kurzen Jahre, die er noch zu leben habe, würden vorübergehen, so oder so. Käme aber das Ende auf irgend eine Weise früher, um so besser! Lächerlich, wer sich wegen ein paar lumpiger Monate Sorgen mache. Das ganze Leben sei nicht die Kosten einer einzigen Sorge wert. Die Hauptsache sei, den Menschen so viel und so lange wie möglich Ängste zu ersparen. Darin sehe er seine Hauptpflicht, die er unter allen Umständen erfüllen wolle, alles andere gehe ihn nichts an. Apotheker Krikor rauchte in tiefer Ruhe sein Nargileh, das er mit Vorsicht vom Hause hierhergetragen hatte. Er wählte tiefsinnig unter den glühenden Kohlenstückchen das ihm sympathischeste aus und drückte es langsam mit nackten Fingern auf den Tabakballen der Wasserpfeife. Vielleicht wollte er den andern sinnbildlich vorführen, daß er die Glut mit Händen greifen könne, ohne versengt zu werden. Sein schiefäugiger Mandarinenkopf mit dem Bocksbärtchen schien, von der feierlichen Aufmerksamkeit des Nargileh-Schmauchens tief erfüllt, alle Erregung zu mißbilligen, die des Geistes gelassenen Gleichmut verwirrte. Der Geist allein gibt der Wirklichkeit

Weitere Kostenlose Bücher