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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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sinkt herab, die Brücke beginnt zu zittern wie ein lebendiges Wesen, bricht aufstöhnend mitten entzwei, und ihre beiden eisengerüstigen Teile hüben und drüben schweben langsam empor, um ein Kriegsschiff in den innersten Hafen des Goldenen Horns einzulassen. »Das ist aber wirklich furchtbar«, sagt Lepsius deutsch und laut, während er mit geschlossenen Augen in den zerschlissenen Polstersitz der Araba zurücksinkt, als wolle er den Kampf aufgeben. Doch schon in der nächsten Sekunde springt er aus der Droschke, drückt dem Kutscher einige vorher nicht abgezählte Piasterstücke in die Hand und läuft, einmal über eine Fruchtschale ausgleitend und fast hinstürzend, über die Treppe zum Quai hinab, wo ein paar Kajiks, kleine Überfuhrboote, auf Fahrgäste warten. Viel Auswahl bietet sich ihm nicht, denn nur zwei alte phlegmatische Barkenführer träumen in ihren Kähnen und scheinen sich um einen Verdienst durchaus nicht zu reißen. Johannes Lepsius springt in eines der Kajiks und deutet mit einer schier verzweifelten Geste hinüber auf die Stambulseite. Er hat noch sechs Minuten Zeit, um zur angegebenen Stunde im Seraskeriat, im Kriegsministerium, zu sein. Selbst wenn sich der Bootsmann tüchtig ins Zeug legt, braucht er allein schon zehn Minuten, um den Meeresarm zu überqueren. Am Quai drüben – so rechnet der Ungeduldige – werden gewiß einige Droschken ihren Standplatz haben. Er kann also von dort in weiteren fünf Minuten beim Ministerium sein. Wenn alles gut geht, fünfzehn Minuten weniger sechs: Neun Minuten Verspätung! Sehr unangenehm, aber immerhin noch glimpflich. – Natürlich geht alles schlecht. Der Schiffer, nach Venezianerart das Fahrzeug vorwärtsstoßend, ist durch keinen Zuruf und keine Beschwörung aus seiner bedächtigen Ruhe zu bringen. Die Barke tänzelt und stößt nicht vorwärts. »Die Strömung, Effendi, das Meer kommt herein«, so deutet der verwitterte Türke das Verhängnis, gegen welches er machtlos ist. Zum Überfluß kreuzt ein Fischerkutter an ihrer Nase vorbei, was wieder einen Zeitverlust von zwei Minuten bedeutet. Dumpf-ohnmächtig, wie nur ein Mensch es sein kann, der auf dem Wasser dahinschaukelt, versinkt der Deutsche in sich. Um dieser einen Stunde willen hat er die Strapaz der Reise auf sich genommen, ist er von Potsdam nach Konstantinopel gekommen, hat er Tag für Tag hier unermüdlich den deutschen Botschafter belagert, und nicht nur diesen, sondern die Vertreter aller neutralen Mächte. Um dieser einen Stunde willen hat er jeden Deutschen oder Amerikaner, der aus dem Innern kam, in allen möglichen Quartieren aufgesucht und um Details angebettelt. Um dieser einen Stunde willen ist er tagelang im Büro der amerikanischen Bible-House-Gesellschaft gesessen, hat die verschiedensten Ordensleute belästigt, hat auf wohlbedachten Umwegen, um den Spitzeln zu entgehn, sich mit armenischen Freunden in verborgenen Zimmern getroffen, dies alles nur, um für die große Begegnung wohlgerüstet zu sein. Und jetzt spielt ihm das Schicksal den Streich, daß er die Zeit nicht einhalten kann. Man könnte fast an dämonische Gegenwinde glauben. Wie hat sich der liebenswürdige Korvettenkapitän von der deutschen Militärmission geplagt, um diese Unterredung zu vermitteln. Dreimal wurde sie zugestanden und dreimal wieder abgesagt. Enver Pascha ist der Kriegsgott des ottomanischen Reiches. Mit einem so unbedeutenden Feinde, wie es Doktor Johannes Lepsius ist, macht er nicht viel Geschichten.
    So, die zehn Minuten sind um. Enver gibt den Befehl, diesen deutschen Querulanten keinesfalls mehr vorzulassen, und die Sache ist verspielt. Mag sie verspielt sein! Mein eigenes Volk kämpft um sein Leben. Der schwarze Reiter mit der Waage ist auch über ihm. Was gehn mich denn die Armenier an? Johannes Lepsius quittiert diese lügenhafte Beruhigung durch ein leeres kurzes Aufschluchzen. Nein, diese Armenier gehen ihn sehr viel an, mehr sogar, wenn er sein Herz mit Grausamkeit prüfen wollte, mehr als sein eigenes Volk gehen sie ihn an, mag so etwas auch sündhaft und verrückt sein. Seit den Tagen Abdul Hamids, seit den Metzeleien von 96, seit seiner ersten Reise ins Innere, seit dem Beginn seines Missionswerkes, fühlt er sich gesandt zu diesen Unglückseligen. Sie sind seine irdische Aufgabe. Und sofort sieht er einige ihrer Gesichter. Und alle schauen aus den riesigen Armenieraugen ihn an. Solche Augen habe nur Wesen, die den Kelch bis zur Neige leeren müssen. Jesus am Kreuz hat wohl

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