Die vierzig Tage des Musa Dagh
werden. Awakian konnte Gabriel schon am nächsten Tag folgende genaue Liste übergeben:
Einwohnerzahl der sieben Dörfer, nach Geschlecht und Alter zusammengerechnet:
583
Säuglinge und Kinder
unter
4 Jahren
579
Mädchen
zwischen
4 und 12 Jahren
823
Knaben
zwischen
4 und 14 Jahren
2074
Frauen
über
12 Jahren
1550
Männer
über
14 Jahren
5609
Seelen
In dieser Volkszählung war auch die Familie Bagradian mit ihren Hausleuten inbegriffen. Doch außer solchen summarischen wurden auch noch verfeinerte Listen angelegt, nach der Familienzahl der einzelnen Dörfer, nach Beruf und Beschäftigung, kurz nach allen bedeutsamen Gesichtspunkten. Doch nicht um das Menschliche allein handelte es sich. Gabriel hatte auch den Viehstand des Bezirkes zu erfassen versucht. Das war kein leichtes Stück Arbeit gewesen, das nur zum geringsten Teile gelungen war, denn darüber wußten nicht einmal die Muchtars genauen Bescheid. Eines stand fest. Großvieh, Rinder und Pferde, gab es überhaupt nicht. Jede bessere Familie hingegen besaß ein paar Ziegen und einen Esel oder ein Maultier zum Lastentragen und Reiten. Die größeren Schafherden der einzelnen Viehzüchter oder Gemeinden wurden nach Bergvolk-Sitte auf die stillen Triften und Hutweiden getrieben, wo sie unter Aufsicht von Schäfern und Halterbuben von einer Schur zur anderen verblieben. Die Stückzahl dieser Herden auch nur annähernd zu bestimmen, erwies sich als unmöglich. Der fleißige Awakian, dem jede Art von Arbeit willkommen war, lief betriebsam in den Dörfern umher und hatte in Bagradians Arbeitszimmer schon ein ganzes Katastralamt angelegt. Heimlich aber zuckte er die Achseln über dergleichen ausgeklügelte Geduldspiele, mit denen ein begüterter Mann eine höchst unsichere Wartezeit geschäftigt auszufüllen suchte. Nichts erschien diesem verspielten Pedanten, der wahrscheinlich eine Schrift über das Volksleben am Musa Dagh im Kopfe trug, zu nebensächlich, um es nicht aufzuzeichnen. Er wollte wissen, wieviel Tonirs, das sind in die Erde gemauerte Backtröge, sich in den Dörfern befänden. Er forschte nach der Getreideernte und schien darüber bekümmert zu sein, daß die Bergbewohner den Mais und das rötliche syrische Korn von den Mohammedanern des Flachlandes bezogen. Daß weder in Yoghonoluk und Bitias, noch anderswo eine armenische Mühle in Gang war, machte ihm offensichtlich nicht weniger Sorgen. Sogar an Apotheker Krikor wagte er sich heran und forschte nach dem Stand seiner Arzneimittel. Krikor, der einen Besuch seiner Bibliothek und nicht seiner Apotheke erwartet hatte, zeichnete mit einer enttäuschten Handbewegung den Kreis des Gewölbes nach. Auf zwei kleinen Brettreihen standen allerlei Töpfe und Tiegel, die mit fremdartigen Schriftzeichen bemalt waren. Das war alles, was an eine Apotheke erinnerte. Drei große Petroleumkannen im Winkel, ein Sack mit Salz, ein paar Ballen mit Tschibuktabak und ein Posten Besenbinderware deuteten auf den lebendigeren Teil des Geschäftsbetriebes hin. Krikor klopfte mit seinem knochigen Zeigefinger hoheitsvoll an eine der mystischen Vasen.
»Alle Heilmittel gehen, wie schon Johannes Chrysostomus sagt, auf sieben Urstoffe zurück, auf Kalk, Schwefel, Salpeter, Jod, Mohn, Weidenharz und Lorbeersaft. In hundert Formen ist es immer dasselbe.« Er ließ den Tiegel zart zum Zeichen dessen erklingen, daß er diese offizinellen Urstoffe des Johannes Chrysostomus vorrätig habe. Nach einer solchen Belehrung in der zeitgenössischen Pharmazeutik forschte Gabriel nicht weiter. Zum Glück besaß er eine eigene umfängliche Hausapotheke. Wichtiger als dies alles war aber zweifellos die Geschichte mit den Waffen. Freund Tschausch Nurhan hatte darüber schon dunkle Andeutungen gemacht. Sobald der Gabriel den verschiedenen Gemeindeältesten diese Frage auf den Kopf zu stellte, kniffen sie sofort aus. Eines Tages aber überfiel er den Muchtar Kebussjan von Yoghonoluk in seiner Wohnstube und hielt ihn fest:
»Sei offen mit mir, Thomas Kebussjan! Wieviel und was für Gewehre besitzet ihr?«
Der Muchtar begann fürchterlich zu schielen und mit seinem Glatzkopf zu wackeln:
»Jesus Christus! Willst du uns ins Unglück stürzen, Effendi?«
»Warum bin gerade ich eures Vertrauens nicht würdig?«
»Meine Frau weiß es nicht, meine Söhne wissen es nicht, nicht einmal die Lehrer wissen es. Kein Mensch!«
»Hat es mein Bruder Awetis gewußt?«
»Deinem Bruder Awetis, er ruhe in Frieden, war es wohl bekannt. Doch der hat ja zu keiner
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