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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Hause war, nur in ihrer Kammer aufhalten. Stephan schlich sich dafür um so häufiger zu Iskuhi, die ebenfalls das Krankenbett schon längst verlassen hatte, ohne aber geheilt zu sein. Wenn sie auf einem Streckstuhl im Garten lag, hockte er sich zu ihren Füßen auf die Erde. Er hatte viele Fragen auf dem Herzen. Iskuhi mußte von Zeitun erzählen. Kam aber Mama dazu, so brachen sie ihre Gespräche gleich Verschwörern ab. Wie sie ihn alle zu sich ziehen, dachte Juliette.
    Die Schule von Yoghonoluk war ein stattliches Haus. Als die größte des Musa-Dagh-Bezirkes umfaßte sie vier Klassen. Schatakhian war von Ter Haigasun mit ihrer Leitung betraut worden. Dieser Lehrer hatte auf eigene Faust der üblichen Volksschule noch eine Fortbildungsklasse angegliedert, in der er Französisch und Geschichte, Oskanian hingegen Literatur und Kalligraphie unterrichtete. Aber nicht genug damit, es bestand auch noch ein Abendkurs für Erwachsene. Hier ließ sogar ein weltumspannender Gelehrter wie Apotheker Krikor sein Licht leuchten. Er hielt Vorträge über Sterne, Blumen, Getier und Gestein, über alte Völker, Dichter und Weise. Nach seiner Art aber trennte er die Gegenstände nicht voneinander, sondern mischte sie phantastisch, ein erfindungsreicher Märchenerzähler der Wissenschaft. Seine Reden würzte er mit geheimnisvollen Worten und Zahlen, so daß ihn seine Zuhörer mit den angestrengten Augen des Nichts-Verstehens anblinzelten. Es wirft aber immerhin ein helles Licht auf den Bildungsdrang dieses Volkes, daß sich bei dem Abendkurs auch sehr alte Menschen, Handwerker zumeist, die ein Stück der Welt gesehen hatten, auf den engen Schulbänken zusammenfanden, um noch am Feierabend des Lebens Neues zu hören und zu lernen. Hapeth Schatakhian nahm Stephan in die Fortbildungsklasse auf, die von dreißig Schülern im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren bevölkert war. Der Lehrer zog Gabriel Bagradian zur Seite:
    »Ich verstehe Sie nicht ganz, Effendi. Was kann Ihr Sohn bei uns denn lernen? Wahrscheinlich weiß er von vielen Dingen mehr als ich, der ich zwar in der Schweiz eine Zeitlang studiert habe, jedoch seit Jahren wieder in dieser Einöde verkomme. Sehn Sie doch nur all diese Kinder an! Wie die Buschneger! Ich weiß nicht, ob das ein guter Einfluß sein wird …«
    »Gerade diesem Einfluß, Hapeth Schatakhian, möchte ich den Jungen nicht entziehn«, erklärte Gabriel, und der Lehrer verwunderte sich über den Eigensinn des Vaters, der aus einem artigen Europäer unbedingt einen kleinen Orientalen machen wollte. Das Schulzimmer war voll von Kindern und Eltern, die diese Kinder einschreiben ließen. Eine alte Frau trat, einen kleinen Buben vor sich herschiebend, auf Schatakhian zu:
    »Hier hast du ihn, Lehrer! Schlag ihn nicht zu viel!«
    »Da haben Sie es nun selbst gehört«, wandte sich Schatakhian an Gabriel und seufzte über den Wust von Altertum, Aberglauben und Geistesdunkel, mit denen er den Kampf aufzunehem hatte.
    Man verabredete, daß Stephan viermal wöchentlich die Schule zu besuchen habe, um sich hauptsächlich im Gebrauch der armenischen Sprache und Schrift zu üben. Sato wurde in die unterste Klasse gesteckt, wo es die meisten Mädchen gab, wenn sie auch viel jünger waren als die bedenkliche Waise von Zeitun. Schon nach dem zweiten Schulgang kam Stephan ganz erbittert nach Hause. Er lasse sich wegen seines dummen englischen Anzugs nicht länger auslachen. Er wolle genau so gekleidet sein wie die andern Burschen. Und er forderte äußerst hitzig, daß bei einem der dörflichen Schneidermeister für ihn der übliche Entari-Kittel mit dem Aghil-Gürtel sowie eine Schalwar-Pumphose in Arbeit gegeben würden. Wegen dieses Begehrens hob ein großer Streit mit Mama an, der tagelang unentschieden blieb.
     
    Zum Ersatz für die Übungsstunden mit Stephan bekam Samuel Awakian eine neue und ganz anders geartete Arbeit. Gabriel übergab ihm all die vielen losen Aufzeichnungen, die er in den letzten Wochen gesammelt hatte. Der Student sollte sie in verschiedenen Ausfertigungen zu einer großen statistischen Übersicht zusammenfassen. Was mit dieser Arbeit beabsichtigt war, erfuhr Awakian nicht. Vorerst galt es, die gesamte Bevölkerungszahl der Dörfer von Wakef-Spitzendorf im Süden bis Kebussije-Bienendorf im Norden nach bestimmten Gesichtspunkten festzustellen. Die Angaben, die Bagradian beim Gemeindeschreiber von Yoghonoluk und den sechs übrigen Ältesten eingezogen hatte, mußten geordnet und nachgeprüft

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