Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
Seele gesprochen.«
    »Sehe ich so aus, als ob ich nicht schweigen könnte?«
    »Wenn es herauskommt, werden wir alle umgebracht.«
    Da Kebussjan aber trotz allem Schielen und Kopfwackeln seinem Gast nicht entrinnen konnte, sperrte er schließlich die Stubentür doppelt ab. Angstvoll zischend gestand er die Wahrheit ein. Im Jahre 1908, als Ittihad zur Revolution gegen Abdul Hamid überging, hatten die jungtürkischen Sendlinge alle Bezirke und Gemeinden des Reiches mit Waffen beteilt, darunter vorzüglich die armenischen, die ja zu einer Hauptstütze des damaligen Aufstandes ausersehen waren. Enver Pascha wußte selbstverständlich davon und hatte nach Ausbruch des Weltkrieges nichts Eiligeres zu tun gehabt, als die schleunige Entwaffnung der armenischen Zivilbevölkerung anzuordnen. Bei Handhabung dieses Erlasses spielte natürlich Charakter und Gesinnung der jeweiligen Regierungsbeamten eine große Rolle. Herrschten in den Vilajets die gewissen Heißsporne der Provinz-Ittihads, wie in Erzerum oder Siwas, so konnte es geschehen, daß waffenlose Leute den Gendarmen Gewehre abkauften, nur damit sie diese dann laut Regierungsbefehl wieder abliefern konnten. An solchen Orten galt nämlich der Nichtbesitz von Waffen gleich viel wie deren heimtückische Verleugnung. Im Vilajet Djelal Beys ging es, wie man vermuten kann, weit gemächlicher zu. Der treffliche Statthalter, dessen Menschlichkeit sich gegen die Maßnahmen des prächtigen Kriegsgottes in Stambul aufbäumte, führte derartige Befehle, wenn er sie nicht gänzlich im Papierkorb verschwinden lassen konnte, mit großer Gelassenheit durch. Diese Milde spiegelte sich dann im Verhalten der meisten Unterregenten, mit Ausnahme des scharfen Mutessarifs von Marasch. Auch in Yoghonoluk war an einem Januartag der rothaarige Müdir mit dem Polizeihauptmann von Antiochia in Sachen der Ablieferung erschienen und nach Entgegennahme lächelnder Beteuerungen, daß man niemals Gewehre in Empfang genommen habe, ruhig wieder abgezogen. Zum Glück hatte der Muchtar seinerzeit tatsächlich keine Empfangsbestätigung an den Boten des Komitees ausgestellt.
    »Sehr gut«, lobte Gabriel den Schulzen, »und sind die Flinten etwas wert?«
    »Fünfzig Mausergewehre und zweihundertfünfzig griechische Karagewehre. Für jedes dreißig Magazine, also je hundertfünfzig Schuß.«
    Gabriel Bagradian sann vor sich hin. Das sei wirklich kaum der Rede wert. Ob denn die Dorfmänner sonst keine Feuerwaffen besäßen. Kebussjan zögerte wieder:
    »Das ist ihre Sache. Auf die Jagd gehen viele. Aber was haben denn ein paar hundert alte Büchsen mit Feuersteinschlössern für einen Wert?«
    Gabriel stand auf und reichte dem Muchtar die Hand:
    »Ich danke dir, Thomas Kebussjan, für dein Vetrauen! Jetzt aber, da du mir alles gesagt hast, möchte ich noch wissen, wohin ihr das Zeug getan habt?«
    »Mußt du das wirklich wissen, Effendi?«
    »Nein! Ich bin aber neugierig und sehe nicht ein, warum du mir das Letzte verschweigen willst.«
    Der Muchtar wand sich in inneren Kämpfen. Von diesem Letzten wußte außer seinen Amtsbrüdern, Ter Haigasun und dem Küster wirklich keine einzige Seele. In dem Wesen Gabriels aber war irgend etwas, dem Kebussjan nicht widerstehen konnte. So gab er denn nach verzweifelten Beschwörungen sein Geheimnis preis. Die Kisten mit den Gewehren und die Munitionsverschläge waren auf dem Friedhof von Yoghonoluk in regelrechten Gräbern beigesetzt, die erfundene Namensinschriften trugen.
    »So, jetzt habe ich mein Leben in deine Hand gelegt, Effendi«, stöhnte der Muchtar, während er die Tür aufschloß, um den Gast zu entlassen. Dieser aber meinte, ohne sich noch einmal umzudrehn:
    »Vielleicht hast du das wirklich getan, Thomas Kebussjan!«
     
    Gedanken, vor denen er selbst erschrak, beschäftigten unausgesetzt Bagradians Geist, ja sie schüttelten ihn so mächtig, daß er ihnen zu keiner Stunde des Tages und der Nacht entrinnen konnte. Dabei waren sie, trotz aller pedantischen Forschertätigkeit, in ein ähnlich traumhaftes Zwischenreich getaucht wie das ganze Leben am Fuße der grünen Alpe. Gabriel sah nur einen Beginn vor sich, er sah nur den Kreuzweg, wo sich die Wege teilten. Fünf Schritte weiter war alles Nebel und Finsternis. Aber es gehört wohl zu jedem Leben vor der Entscheidung, daß nichts unwirklicher ist als das Ziel. Und doch, war es begreiflich, daß sich Gabriel mit seiner ganzen aufgestörten Energie nur in diesem engen Tal bewegte, daß er jeden Ausweg

Weitere Kostenlose Bücher