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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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vermied, der vielleicht noch offenstand? Wo blieb die Stimme: Warum zögerst du, Bagradian? Warum läßt du Tag um Tag verstreichen? Du hast einen guten Namen, du hast ein Vermögen. Wirf beides in die Waagschale! Wenn sich dir auch Gefahren und die größten Schwierigkeiten entgegenstellen, versuch es dennoch, dich mit Juliette und Stephan bis Aleppo durchzuschlagen. Aleppo ist schließlich eine Großstadt. Dort hast du Beziehungen. Du kannst wenigstens Frau und Sohn unter den Schutz der Konsuln stellen. Man hat zwar überall die Notabeln festgenommen, verschickt, gefoltert, gehenkt. Ein furchtbares Wagnis ist die Reise jedenfalls. Ist es aber ein geringeres Wagnis, zu bleiben? Warte nicht länger, unternimm einen Rettungsversuch, ehe es zu spät ist! – Diese Stimme schwieg nicht immer. Doch sie klang verdeckt. Friedlich lag der Musa Dagh. Nichts veränderte sich. Diese Welt hier schien dem Agha Rifaat Bereket recht zu geben. Kein Hauch der Begebnisse drang in das Tal. Die Heimat, die er auch jetzt noch manchmal für eine verschollene Kindersage hielt, saugte Bagradian fest. Juliette verlor für ihn an Deutlichkeit. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre er vom Musa Dagh vielleicht nicht mehr freigekommen.
    Sein feierliches Versprechen, über die Waffensache zu schweigen, hielt Gabriel treulich. Auch Awakian erfuhr kein Wort davon. Hingegen bekam dieser plötzlich neue Aufträge. Er wurde zum Kartenzeichner ernannt. Jener Plan des Damlajik nämlich, den Stephan schon im März auf Wunsch des Vaters mit ungeschickten Strichen begonnen hatte, gewann nun Bedeutung. Awakian sollte von dem Berg eine ganz genaue Karte größten Maßstabs in drei Exemplaren ausführen. Das Tal mit Mensch und Vieh ist erschöpft, dachte der Student, jetzt kommen die Gebirgszüge an die Reihe. – Der Damlajik ist bekanntlich der wahre Kern des Musa Dagh. Während sich der Bergstock im Norden in mehrere Arme zerstreut, die sich gegen das Tal von Beilan in träumerischen Naturburgen und -Terrassen verlieren, während er im Süden unordentlich und gleichsam nicht fertig geworden in die Mündungsebene des Orontes abstürzt, sammelt er in der Mitte als Damlajik alle seine Kraft und Aufmerksamkeit. Hier zieht er mit starken Felsenfäusten das Tal der sieben Dörfer an seine Brust wie eine faltige Decke. Hier bäumen sich auch ziemlich senkrecht über Yoghonoluk und Hadji-Habibli seine beiden höchsten Kuppen auf, die einzigen Punkte, die keine Bäume tragen, sondern mit kurzem Mattengras bedeckt sind. Der Rücken des Damlajik bildet eine ziemlich geräumige Hochfläche, an der breitesten Stelle, zwischen dem Ausstieg der Steineichenschlucht und den Steilwänden der Küste beträgt die Luftlinie (nach Awakians Berechnung) mehr als drei Kilometer. Was aber Gabriels Sinn am meisten beschäftigte, waren die sonderbar scharfen Grenzen, welche die Natur dieser Bergfläche gesetzt hatte. Da war zuerst der Einschnitt im Norden, ein zusammengeschnürter Engpaß und Schmalsattel, auf den sogar vom Tal empor ein alter Saumpfad führte, der aber im Gestrüpp versickerte, da es hier keine Möglichkeit gab, über die Felswand zum Meere zu gelangen. Im Süden hingegen, wo der Berg abbrach, erhob sich über einen wüsten, beinahe pflanzenlosen Halbkreis von Steinhalden ein wuchtiger Felsturm von fünfzig Fuß Höhe. Der Blick von dieser naturgeschaffenen Bastion beherrschte einen Teil des Meeres und die ganze Orontes-Ebene mit ihren türkischen Dörfern bis über die Höhen des kahlen Dschebel Akra hinaus. Man sah die gewaltigen Tempel- und Aquäduktruinen von Seleucia sich im grünen Schlingwuchs krümmen, man sah jede Wagenspur auf der wichtigen Landstraße von Antiochia nach El Eskel und Suedja. Die weißen Würfel dieser Städtchen leuchteten und die große Spiritusfabrik am rechten Orontesufer in der nächsten Meeresnähe stand grell in der Sonne. Jedem militärischen Verstand mußte die ideale Verteidigungslage des Damlajik sofort auffallen. Wenn man von der unbequemen Talseite der Alpe absah, die selbst müßige Spaziergänger durch den mühsamen und schlechtgebahnten Aufstieg auspumpte, so gab es nur einen einzigen wirklichen Angriffspunkt, den schmalen Sattel im Norden. Doch hier gerade bot die Örtlichkeit hundert Vorteile für den Verteidiger, nicht zuletzt den Umstand, daß die unbewaldeten Lehnen der Kerbung, mit Knieholz, Legföhren, Buschwerk, Wildwuchs aller Art übersät, unüberwindliche Bodenhindernisse bedeuteten.
    Awakians kartographische

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