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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Tätigkeit stellte Gabriel lange nicht zufrieden. Immer wieder entdeckte er neue Mängel und Fehler. Der Student fürchtete, daß die Chimäre seines Brotherrn langsam in Verrücktheit umschlage. Er ahnte noch immer nichts. Sie verbrachten nun ganze Tage auf dem Damlajik. Bagradian, der Artillerieoffizier des Balkankrieges, besaß noch Feldstecher, Meßstab, Bussole und ähnliches Werkzeug der Raumbestimmung, das nun zu Ehren kam. Mit hartnäckigem Eifer sah er darauf, daß in die Skizzen der Lauf jeglicher Quelle, jeder hohe Baum, jeder starke Felsblock eingezeichnet wurde. Doch es blieb nicht nur bei roten, grünen und blauen Strichen, merkwürdige Worte und Zahlen traten hinzu. Zwischen den Gipfelkuppen und dem Nordsattel lag eine sehr große flache Einsenkung. Da sie mit herrlichem Gras bewachsen war, begegnete man hier immer den schwarzen und weißen Schafherden und den Hirten, die wie Gestalten des Altertums in ihren Schäferpelzen winters und sommers die Tage, verschliefen. Gabriel und Awakian gingen, die Schritte zählend, genau die Grenzen der Weide ab. Bagradian deutete auf zwei Quellen, die sich oben am Rande der Wiese durch starkes Farnkraut arbeiteten:
    »Das ist ein großes Glück«, sagte er, »schreiben Sie über das Ganze mit rotem Stift: Stadtmulde.« Solcher geheimnisvoller Benennungen war kein Ende. Mit besonderer Eindringlichkeit schien Gabriel eine Stelle zu suchen, die er wohl nach ihrer milden kühlen Schönheit wählte. Auch sie war an einem Quellenlauf gelegen, jedoch weiter gegen das Meer zu, wo zwischen Hochfläche und Steilwänden sich ein dunkelgrüner Gürtel von Myrthen- und Rhododendrongebüsch hinzog. »Nehmen Sie das auf, Awakian, und schreiben Sie mit rotem Stift dazu: Dreizeltplatz.«
    Awakian konnte sich die Frage nicht versagen:
    »Was bedeutet Dreizeltplatz?«
    Gabriel aber war schon weiter gegangen und hörte nicht. Ich muß einem Träumer beim Träumen helfen, urteilte der Student. Doch gerade was mit dem Dreizeltplatz gemeint war, sollte er schon zwei Tage später erfahren.
     
    Als Doktor Altouni den Verband von Iskuhis Arm und Schulter abnahm, wurde er sehr mürrisch:
    »Ich hab es mir gedacht. Wären wir in einer großen Stadt, könnte alles noch gut werden. Du hättest in Aleppo bleiben sollen, mein Augenlicht, und dort ins Hospital gehn. Aber vielleicht hast du recht gehabt, hierher zu kommen. Wer kann das in solchen Zeiten voraussagen? Nun, sei mir nicht verzweifelt, Seele! Wir werden ja noch sehn!«
    Iskuhi beruhigte den Alten:
    »Ich bin gar nicht verzweifelt, Arzt. Es ist ja glücklicherweise der linke Arm.« Iskuhi glaubte den schwachen Tröstungen Altounis nicht. Sie sah flüchtig an sich herab. Schlaff, abgezehrt, verkürzt hing ihr Arm aus der Schulter. Bewegen konnte er sich nicht. Doch sie fühlte sich schon zufrieden, weil sie keine Schmerzen mehr litt. Nun würde sie wohl für immer ein Krüppel bleiben. Aber war das nicht ein gelindes Opfer, wenn Iskuhi an das Schicksal des Transportes dachte, mit dem sie nur zwei flüchtige Tage lang hatte wandern müssen? (Auch sie war in ihrem Innern wie das ganze Volk hier sonderbar zukunftlos.) Ihren Nächten aber entstiegen die grauenhaftesten Bilder und Geräusche. Das Schlurfen, Scharren, Tappen, Traben von tausend Füßen. Müd winselnde Kinder, die hinfallen, und sie muß trotz ihrem Gebrechen zwei und drei zugleich hochreißen. Irrsinnige Aufschreie an der Spitze des Zuges und schon toben knüppelschwingende Saptiehs mit blutunterlaufenen Augen heran. Das Gesicht des Vergewaltigers überall! Es bestand nicht nur aus einem, sondern aus dreißig Gesichtern und es erschienen manche darunter, die sie kannte und die ihr nicht einmal widerlich waren. Meist aber starrte es schmutzig, borstig, blutbesudelt auf sie herab. Auf den wulstigen Lippen platzten Speichelblasen. So genau konnte sie die überlebensgroße kaleidoskopische Fläche sehen, die sich über sie beugte und sie in eine knoblauchscharfe Betäubungswolke einhüllte. Sie wehrte sich und schlug ihre Zähne in die haarigen Affenhände, die ihre Brüste umspannten. Aber was half das? Ich habe nur einen Arm, überlegte sie, als wäre das ein mildernder Umstand dafür, daß sie sich dem Grauen anheimgab und das Bewußtsein verlor.
    Die Tage, die solchen Nächten folgten, glichen den Tagen von Malariakranken, bei denen die Körpertemperatur von hohen Fiebergraden ohne Übergang tief unter das Maß stürzt. Ein Schleier legte sich dann auf ihre Sinne und vielleicht

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