Die Violine des Teufels
Larrazábal bedeute der Tod Leid, aber zugleich auch Leben, und zu sterben heiße, für immer zu leben. Dann kam der bewegendste Teil der Predigt: Der Dechant nannte Ane Larrazábal eine enorm einflussreiche Frau, die mit ihrer Musik das Leben Tausender von Menschen auf der Welt – Männern wie Frauen – verändert hatte, indem sie mit dem wunderbaren Spiel ihrer Geige ihre Herzen angerührt und sie damit für kurze Zeit in eine bessere Welt entführt habe. Er erinnerte daran, dass Musik die Macht habe, die Menschen im Innersten zu wandeln, und führte als Beispiel den früheren spanischen König Philipp V. an, der den Bau des nahe gelegenen Madrider Palacio Real beauftragt hatte.
»Wenn er sich den Beinamen ›der Tapfere‹ erwarb, unter dem er in die Geschichte eingegangen ist, dann weil die Musik ihn aus einer tiefen Depression riss. Der König wollte weder sein Schlafgemach verlassen noch sich um die Regierungsangelegenheiten kümmern, und nicht einmal die Bitten der Königin oder der höchsten Würdenträger des Staates konnten ihn dazu bringen, seine Regierungsverantwortung als Monarch wieder wahrzunehmen. Dann aber, liebe Freunde, besuchte der große italienische Sänger Farinelli Madrid. Als die Königin Elisabetta Farnese seine wunderschöne Stimme hörte und seine einnehmende Persönlichkeit kennenlernte, da hatte sie eine Idee, die sich als schicksalhaft für die Zukunft Spaniens erwies. Der Sänger wurde in den Palast geholt und sang in einem Zimmer, das neben dem Philipps V. lag. Dem König gingen die wundervollen Lieder Farinellis sogleich zu Herzen, und er ließ ihn zu sich bringen. Nach und nach übte die Musik eine heilsame Wirkung auf den melancholischen Monarchen aus, und im Lauf der Monate fand er in der Stimme jenes legendären Kastraten die nötige Kraft, um die Regierungsaufgaben wieder zu übernehmen. Ich weiß«, schloss der Dechant, »dass Ane Larrazábal für Tausende von Menschen das war, was Farinelli für Philipp V. war, und daher wird ihr Tod noch lange betrauert werden, nicht nur von ihren Freunden und Angehörigen, sondern auch von allen, denen die Geige dieser großartigen Künstlerin an irgendeinem Punkt ihres Lebens einmal geistigen Trost gespendet hat.«
Als Lupot diese Worte hörte, dachte er unwillkürlich an die zwiespältige Natur des Instruments, denn auch wenn die Geige mit dem Teufel assoziiert wurde, symbolisierte sie doch zugleich Zärtlichkeit und romantische Liebe. In Filmen erklang immer Geigenmusik, wenn zwei Personen sich verliebten.
Auch bei Inspector Perdomo hinterließen die Worte des Dechanten tiefen Eindruck. Er nahm an der Trauerfeier teil, weil er mit eigenen Augen sehen wollte, wer zum engsten Kreis des Opfers gehörte.
Sosehr die Worte des Dechanten die Trauergäste auch bewegt hatten, nichts konnte sich mit dem musikalischen Höhepunkt des Abends messen: Larrazábals Vater, der Professor für Geige am Konservatorium Jesús Guridi in Vitoria war, spielte die Bach-Arie Erbarme dich, eines der erschütterndsten und zugleich tröstlichsten Stücke aus der Matthäuspassion. Die Melodie ist so traurig, dass man jedes Mal, wenn man sie hört, an den tragischsten aller Verluste denken muss: den Tod des eigenen Kindes. Und Bach kannte diesen Schmerz besser als jeder andere, denn die Hälfte seiner zwanzig Kinder starb früh. Doch es ist zugleich auch eine Musik von großer Heilkraft, denn sie sagt dem Hörer, dass selbst das größte Leid ausgedrückt und mit anderen geteilt werden kann. Das Erbarme dich, mein Gott ist eine Arie für Violine und Alt, die etwa fünf Minuten dauert und mit einem langen Geigenvorspiel beginnt.
Über rhythmisch pulsierenden Bässen entwickelte Anes Vater, Don Íñigo Larrazábal, langsam die herzzerreißende Melodie des Vorspiels, sehr elegant und dennoch maßvoll. Beim Spielen solch anrührender Melodien, dachte Lupot, ist es leicht, sich zu billiger Rührseligkeit hinreißen zu lassen, indem man Missbrauch mit dem Vibrato treibt, diesem Beben, das der Musiker bei bestimmten Tönen mit dem Finger erzeugt, um ihnen mehr Ausdruck zu verleihen.
Doch Don Íñigo beging diesen Interpretationsfehler nicht, obwohl er gerade einen der tragischsten Momente seines Lebens durchmachte, da er sich öffentlich und für immer von seiner einzigen, innig geliebten Tochter verabschiedete, der er bis zu ihrem zehnten Lebensjahr selbst Geigenunterricht erteilt hatte. Aber er verfiel auch nicht ins andere Extrem, in die Gepflogenheit mancher
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