Die Violine des Teufels
erkannte, dass sie sich zu früh gefreut hatte.
Lupot lachte über die verdutzte Miene seiner Freundin, doch aus Solidarität verließ er ebenfalls das schützende Haltestellenhäuschen, hakte Natalia unter und ging mit ihr die Straße entlang Richtung Auto.
Die meisten Menschen, denen sie unterwegs begegneten, kämpften mit sich, ob sie den Regenschirm zuklappen sollten oder vorsichtshalber noch nicht, denn der Wolkenbruch hatte zwar beinahe vollständig aufgehört, doch es wehte immer noch ein ungewöhnlich stürmischer, böiger Wind.
In etwa fünfzig Metern Entfernung sah Natalia einen Augustinermönch im charakteristischen schwarzen Ordenshabit, der mitten auf dem Bürgersteig stehen geblieben war und mit einem riesigen rabenschwarzen Regenschirm kämpfte, der bei einer trügerischen Böe umgeschlagen war. Der Anblick war so malerisch, dass die beiden Geigenbauer, die eigentlich gerade die Straße überqueren wollten, stehen blieben, um den Ausgang dieses Scharmützels zwischen Geistlichem und Regenschirm zu beobachten. Genau in dem Moment, in dem es dem Augustiner gelang, das Gestänge zu richten, riss eine besonders heftige Böe ihm den Schirm aus der Hand und wirbelte ihn über den Bürgersteig. Gleich darauf warf eine seitliche Breitseite den Schirm gegen die Backsteinmauer einer Schule, und zwar mit solcher Wucht, dass die Stahlspitze des Schirms, die wohl fünfzehn Zentimeter lang sein mochte und schimmerte wie eine Machete, Funken sprühend an der Wand entlangschrammte.
Wenige Sekunden später schien der Regenschirm ein Eigenleben zu entwickeln. Unvermittelt entfernte er sich von der Mauer, und Natalia fiel auf, dass er direkt auf sie zuflog. Der Augustiner bat sie per Handzeichen, sie möge den Schirm festhalten, daher stemmte sie sich gegen den Wind und ging auf den flüchtigen Parapluie zu, um ihn einzufangen wie einen widerspenstigen Hund, der sich von seinem Herrchen nicht an die Leine nehmen lassen will. Plötzlich blieb der Schirm liegen, und Natalia bückte sich, um ihn am Griff zu packen. Doch in diesem Augenblick erhob er sich wieder in die Luft, wirbelte teuflisch schnell über den Kopf der Frau hinweg und traf Lupot mit Wucht ins Gesicht – so unglücklich, dass die Stahlspitze sich in sein rechtes Auge bohrte.
32
E he Perdomo nach Vitoria abreiste, musste er noch Gregorio in der Schule aufsuchen, um ihm mitzuteilen, dass er eine unaufschiebbare Reise unternehmen und Gregorio eine Nacht allein zu Hause zurechtkommen musste. Da der Junge erst um fünf Uhr aus der Schule kommen würde und diese so nahe lag, dass er zu Fuß gehen konnte, war das einzige Problem das Abendessen.
»Hier hast du zwanzig Euro, bestell dir davon was bei Telepizza«, schlug Perdomo seinem Sohn vor. »Wenn du dir einen Freund einladen möchtest, der bei dir übernachtet, damit du nicht so allein bist, kannst du das gerne tun, aber ich bin jederzeit über Handy zu erreichen. Wenn dir mein Plan nicht gefällt, kann ich auch deine Großeltern bitten, dich abzuholen, nur hast du dann morgen mehr Stress mit dem Schulweg – wo die wohnen, sagen sich doch Hase und Igel gute Nacht.«
Aber von Plan B wollte der Junge natürlich nichts wissen. Es war das erste Mal, dass er eine ganze Nacht allein zu Hause verbringen würde, und bei dieser Vorstellung fühlte er sich plötzlich sehr erwachsen.
Nach dreieinhalb Stunden waren die beiden Polizisten in der Hauptstadt der Provinz Álava.
In der gesamten Stadt wimmelte es von Menschen, und überall hingen Plakate, die den Beginn des renommierten Jazzfestivals am nächsten Tag ankündigten. Perdomo und Villanueva hatten ein Zimmer im Hotel Canciller Ayala reserviert, wo auf Grund der Nähe zum Mendizorrotza-Stadion auch die meisten Stars des diesjährigen Festivals abstiegen. Überdies lief man vom Hotel aus nur zwanzig Minuten zur Plaza de la Constitución, an der das Jesús-Guridi-Konservatorium lag, wo Anes Vater Geigendozent war.
Schon in der Hotellobby hatten Perdomo und Villanueva ihre erste Begegnung mit dem Ruhm: Eine Frau plauderte ganz in der Nähe der Rezeption mit einem ehrwürdigen älteren Farbigen, und diese Frau war niemand anderes als Norah Jones, die Tochter des legendären Sitarkönigs Ravi Shankar. Mit nur drei Alben und einer Handvoll guter Songs, in denen sich akustischer Pop mit Soul und Jazz mischte, hatte sie ihren Vater an Berühmtheit bereits eingeholt – wenn sie ihn nicht sogar schon in den Schatten stellte. Mit ihren neunundzwanzig Jahren war
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