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Die Violine von Auschwitz: Roman (German Edition)

Die Violine von Auschwitz: Roman (German Edition)

Titel: Die Violine von Auschwitz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Àngels Anglada
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so kalt und dunkel war, wenn sie zum Appell antreten mussten. Inzwischen enthüllte die Helle sogar schon zu Beginn eines neuen Tages die empörenden Zeichen ihrer langen Sklaverei: Er sah die abgezehrten Gesichter in den Reihen, die violetten Schatten unter den Augen, die abgetragene Kleidung mit den aufgenähten Winkeln in den verschiedenen berüchtigten Farben, vor allem die gelben, sah die Spuren der Schläge und die Narben in einigen Gesichtern. Hatte er das Zeitgefühl verloren? Tage wie Jahre und Monate wie Tage, alles verschwamm zu einem einzigen Nebelband.
    Außerhalb des Lagers jedoch, außerhalb jener Insel in einem monströsen Archipel, war die Zeit nicht stehengeblieben. Er spürte einen Hauch lauer Luft, eine wohltuende Liebkosung im Reich des Hasses. In seine Gasse von früher, in Krakau, würden bald die Schwalben zurückkehren. Der Frühling, sagte er sich, würde mehr denn je erblühen. Er wird über den Körpern tausender Toter erblühen.
    Das war kein tröstlicher Gedanke, aber dennoch nicht zu verleugnen. Er fand den Kaffee bitterer, die Scheibe Brot winziger und kärglicher, als hätte ihr diese Überlegung das Gewicht genommen. Ein paar Minuten lang betrachtete er den Himmel – er hatte es sich schon abgewöhnt, da er stets voller Wolken oder in Nebel gehüllt war – und entdeckte erstmals große blaue Stellen. Plötzlich verspürte er einen heftigen Stockschlag auf dem Rücken, er war im Strom der Arbeiter auf dem Weg zu den verschiedenen Werkstätten einfach stehen geblieben. Ja, dachte er erneut, während er einen Aufschrei unterdrückte, der Frühling naht. Er wird auf der mit unseren Toten gedüngten Erde erblühen.
    Noch mit diesem Gedanken beschäftigt und mit schmerzendem Rücken betrat er die Werkstatt; nun nahm er sich zusammen und fing sofort damit an, ein letztes Mal die Kanten der Decke zu glätten. Er roch am Holz, nahm das Modell, das er schon vorbereitet hatte, und begann ganz selbstvergessen und mit der feinfühligen Kunstfertigkeit eines Dichters das Innere der Decke mit dem kleinen Hohleisen abzunehmen. Der Schlag, der Gedanke an den Tod, die Aussicht auf die endlosen Stunden in der Fabrik, alles verschwand, als wäre der Geruch des Holzes ein Wind, der sämtliche schwarzen bedrohlichen Wolken vertreibt.
    Der Aufseher frühstückte; er konnte sich also gefahrlos eine kleine Pause gönnen. Danach legte er sich die kleinen Wölbungshobel in den drei verschiedenen Größen bereit, die er brauchen würde, um die richtige Stärke der Decke zu erreichen. Nach reiflicher Überlegung war er zu dem Entschluss gekommen, die Decke in der Mitte bei viereinhalb Millimetern zu belassen. Normalerweise veranschlagte er fünf, doch es war ihm befohlen worden, ein Instrument nach den Maßen einer Stradivari anzufertigen; also würde er die Ränder auf drei Millimeter abschleifen. Unter seinen Arbeitsbedingungen wollte er es nicht riskieren, die Decke noch dünner zu machen. Der Klang würde trotzdem voll sein, ganz nach der alten Schule von Mateusz Dobrucki, der ebenso wie er selbst aus Krakau stammte. Geigen und Bratschen, deren Decken zu dick waren, konnte er nicht ausstehen, denn sie klangen in seinen Ohren dumpf. Das Hohleisen glitt sicher über das Holz, stets gegen den Verlauf der Holzfasern, so wie es ihm sein Vater – Friede sei mit ihm – beigebracht hatte. Kein längerer Span splitterte ab, das durfte ihm auch nicht passieren. Er arbeitete schließlich seit seinem vierzehnten Lebensjahr in diesem Beruf!
    Die Tage wurden mit jedem Morgen heller, und an der Arbeit gemessen, die er bereits verrichtet hatte, rechnete er sich aus, dass der Mittag nicht mehr fern war. Er hielt einen Augenblick inne, dann nahm er noch einmal Maß und freute sich über seine Genauigkeit. Er war schon bei sechs Millimetern angelangt. Jetzt musste er mit dem kleineren Hobel beginnen, der ihm die Arbeit sehr erleichtern würde und mit dem er bei der Rohbearbeitung der Wölbung noch nie Probleme gehabt hatte.
    Da plötzlich wurde die Tür aufgerissen, er drehte sich jedoch nicht um. Wer auch immer die Inspektoren oder Besucher sein mochten, sie mussten ihn arbeitend antreffen. Um ihn herum gingen die Hobelgeräusche weiter, er roch die Späne, hörte den einen oder anderen Hammerschlag in seiner Nähe.
    Ohne es zu wollen, ließ er plötzlich seinen Hobel sinken. Er blickte nicht auf, das war auch gar nicht nötig; denn inmitten der üblichen Geräusche, die ihn in der Werkstatt umgaben, hatte er zwei Stimmen

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