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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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»Einer der Männer sagt, er ist Robert le Clerc und hat den anderen mit einer Nachricht für Euch hergeführt.«
    »Eine Nachricht!« rief ich, und der Stickrahmen fiel klappernd zu Boden, so schnell kam ich hoch.
    »Ich bitte dich, Margaret, denk daran, was Master Wengrave gesagt hat. Lauf nicht allein zur Tür. Kat, schick zwei bewaffnete Knechte in die Diele, sie sollen neben ihr stehen, wenn du die Kerle hereinläßt.« Kat knickste und rannte davon.
    Als man Robert und seinen Freund hereinführte, war mir klar, wieso Kat gezögert hatte. Robert selber sah noch ganz manierlich aus, auch wenn sein graues Gewand fadenscheinig war und seine Bruch ein Loch hatte. Es war sein Begleiter, der sie in tiefstes Erstaunen versetzt hatte. Seine Kleidung bestand eigentlich nur aus einem seltsamen und immer wieder geflickten Umhang, der mit Katzenfellen aller Rassen gefüttert war. Darunter schaute ein dunkles Wollgewand hervor, welches den Eindruck machte, als hätte es einst einem Gedrungenen und Dickeren gehört. Und einem Reicheren obendrein. Unter den Flicken konnte man auf dem schmutzigen Rock die Reste einer Stickerei in einem prächtigen, fremdländischen Muster ausmachen, die wie Verkrustungen wirkten. Ich kam zu dem Schluß, daß der Rock ursprünglich blau oder grün gewesen sein mußte, obwohl beide Farben kaum noch zu erkennen waren. Die Bruch des Mannes war unsäglich, darunter sah man Füße, die er mit mehreren Lagen Lumpen umwickelt hatte, als trüge er einen Verband. Kurzum, er sah wie eine Vogelscheuche aus.
    Und sein Gesicht trug auch nicht zu einem besseren Eindruck bei. Ein grauer, ausgefranster Bart wuchs mit ein paar weißen Haarbüscheln zusammen, die rings um seinen Schädel stehengeblieben waren. Seine hellblauen Augen funkelten so eigenartig, als wäre er nicht ganz bei Trost. Seine Haut war rosig wie die eines Säuglings. Ein alter, irrer Säugling. Konnte so einer Kunde von Gregory bringen?
    »Ihr seid Dame Margaret de Vilers, Gemahlin von Sir Gilbert de Vilers? Meine Botschaft ist nur für Euch bestimmt.« Er sprach Französisch.
    »Ja, die bin ich«, erwiderte ich in dieser Sprache. Mein Herz fing an zu hämmern.
    »Ich habe Euren Mann auf einem Fuhrwerk zusammen mit sechs anderen englischen Gefangenen gesehen, als man sie durch die Straßen von Orleans karrte. Die Leute bewarfen sie mit allem möglichen, und die Wachen teilten nach rechts und links Hiebe aus und riefen: ›Tut ihnen nichts, sie sind wertvoll‹, doch sie waren nicht mit dem Herzen bei der Sache.«
    »Fahrt fort.«
    »Mir wurde eine reiche Belohnung versprochen.« Er schwieg.
    »Die bekommt Ihr, wenn Ihr zu Ende erzählt habt.«
    »Sie meint es ehrlich«, warf Robert ein.
    »Gerade bot sich mir eine schöne Lücke und schon wollte ich meinen Stein werfen, da hörte ich einen von ihnen – einen großen, verboten aussehenden, dunklen Kerl – Latein rezitieren. Ich kannte die Textstelle: Seneca. Ei, das kam gewißlich unerwartet – insbesondere von einem englischen Hundesohn. ›He, Bruder‹, rief ich in Latein, ›was tut Ihr da auf dem Karren, statt in einem gemütlichen Schulzimmer lateinische Sätze zu zergliedern?‹ – ›Das gleiche könnte ich dich in deinen Lumpen und Katzenfellen fragen.‹ Und ehe die Wachen mich verscheuchen konnten, sagte er, ich solle nach London reisen und Margaret de Vilers im Haus der Kendalls eine Botschaft des Inhalts bringen, daß der Comte de St. Médard, welcher König Karl von Navarra dient, seine Auslösung gekauft hätte. Er wäre auf dem Wege zum Chateau des Comte in den Pyrenäen. Da König Karl augenblicklich mit den Engländern verbündet wäre, meinte er, demnächst auf Ehrenwort freizukommen, doch ich sollte Euch die Botschaft überbringen und dafür reich belohnt werden. Das waren seine genauen Worte – ›reich entlohnten‹ Er blickte mich erwartungsvoll an.
    »Weiter.«
    »Reich, so sagte ich bei mir. Das Wort hast du schon lange, lange nicht mehr gehört. Also machte ich die Seereise als Pilger und bettelte mich die ganze Strecke von Dover bis hierher durch.«
    Er lebte! Er lebte und kam heim!
    »Wie lange ist es her, daß Ihr ihn gesehen habt?«
    »Oh, mehr als einen Monat, direkt vor Mariä Himmelfahrt. Bettler reisen langsam. Also, was ist jetzt mit der Belohnung –«
    »Mehr als einen Monat? Aber wieso ist er dann noch nicht daheim? Ist ihm unterwegs etwas zugestoßen?« Roberts Miene wollte mir nicht gefallen.
    »Dame Margaret, ich glaube nicht, daß er unterwegs

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