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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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jählings dunkel und dumpf. Als wir durch den Garten und über die Gasse zwischen den Häusern gingen, legte Mistress Wengraves Gärtner die Hacke beiseite und schloß sich dem seltsamen Zug an. Oh, Mist, dachte ich, eine ganze Meute und Regen obendrein. Ich hielt meinen wehenden Umhang fest und blickte zum dräuenden Himmel hoch, wo schwarze Wolken wirbelten wie im Kochkessel. Mein eigenes Hofgesinde, das sich gerade unterstellen wollte, sah, wie sich das Tor öffnete, blieb stehen und schloß sich uns an. Das Grummeln des ersten Donners und die ersten schweren Tropfen veranlaßten uns, zu unserer Küchentür zu laufen. Die Köchin blickte erfreut auf, doch dann wurde sie ängstlich, als sie die Mienen der Knechte sah. Stumm ließ sie ihre Gemüsesuppe stehen, während der Küchenjunge die Messer im Stich ließ, die er gerade schärfte. Auch sie schlossen sich unserer gespenstischen, fast feierlichen Prozession an.
    Vor dem Wandschirm, der die Küchentür von der Diele trennte, blieb ich stehen. »Wohin jetzt, Master Kendall?«
    »Zunächst zur Feuerstelle; dort gibt es einen losen Stein.«
    »Die Feuerstelle?« Die Diele lag dunkel und verlassen. Der Küchenjunge lief, daß er die Läden schloß, denn der Wind peitschte Regen durch die Fenster. Es roch nach modrigem Staub, und das Regengeprassel auf dem Dach machte alles noch unheimlicher. Wie anders war das zu Master Kendalls Lebzeiten gewesen, als es immerfort Girlanden und Feste und Kurzweil gab! »Wir brauchen eine Kerze«, sagte ich und starrte in das trübselige Dunkel.
    »Mistress, ist das sein Geist, mit dem Ihr da redet?« Die Stimme der Köchin klang besorgt, als sie mir die flackernde Kerze brachte, die sie am Feuer in der Küche angezündet hatte.
    »Aber ja, natürlich. Woher wißt Ihr das?«
    »Wir haben uns schon gedacht, daß er wieder da ist. Eine ganze Weile war er fort. Es war so beruhigend, ihn in den Ecken zu spüren und ihn durch die Tür schweben zu sehen. Er war ein guter Herr, wir würden ihn jederzeit zurückhaben wollen. Aber wir haben gedacht, Ihr seht ihn nicht. Vor Eurer Abreise habt Ihr Euch nie etwas anmerken lassen.«
    »Das hat sich jetzt geändert. Kommt. Er sagt, er hätte euren ausstehenden Lohn unter einem Stein an der Feuerstelle versteckt.«
    »Oh, dann ist er tatsächlich fortgewesen.« Die Köchin schüttelte bekümmert den Kopf. »Sonst hätte er gewußt, daß diese furchterregenden Kerle, die Euch entführt haben, zurückgekommen sind und alle Platten hochgestemmt haben. ›Diese reichen Krämer haben immer Geld versteckt‹, hat der grimmige, alte Ritter gesagt. ›Ihr könnt mir glauben, ich habe genügend Städte gebrandschatzt. Sie sind sich alle gleich, ob nun Franzosen oder Engländer: Nehmt die Platten hoch‹.«
    Nie zuvor hatte ich Master Kendalls Geist zornig gesehen, doch bei diesen Worten wirbelte er herum und raschelte beinahe so wütend wie die Weiße Dame, wenn sie einen Koller hat. Er machte soviel Wind, daß er die Kerze ausblies. Einige Leute, die ihn spürten, bargen den Kopf in den Armen; Mistress Wengrave betete ein paar Paternoster, und der Pferdeknecht bekreuzigte sich. Der Junge kam mit der frisch angezündeten Kerze zurückgerannt, und ich hielt sie hoch und spähte in die dunkel gewordene Diele. In ihrem Lichtkreis erblickte ich die Gesichter der sich drängelnden Zuschauer.
    »Er läßt fragen, ob sie hinter der Täfelung nachgeschaut haben?«
    »Nein, auf die Idee sind sie nicht gekommen. Als sie das Gold gefunden hatten, haben sie sich diebisch gefreut und sind abgezogen.« Der Donner rollte, und ich zuckte beim Krach eines herunterfahrenden Blitzes zusammen.
    »Aber – Gregory, hat sich der auch diebisch gefreut?« Das Herz tat mir weh. War das nun das Ende, diese staubige Dunkelheit?
    »O nein, Mistress. Der ist wirklich nicht wie die anderen; der hat ausgesehen, als ginge es zu einer Beerdigung.« Die Köchin schaute bei den Worten traurig drein, doch dann heiterte sich ihre Miene wieder auf. »Aber er hat mich nach meinem Vogel gefragt; er hat sich erkundigt, wie es meiner Schwester geht; er hat sich an meine lombardische Creme erinnert. Hat gesagt, daß es mir darin niemand gleichtut, nicht einmal der Koch des Herzogs höchstpersönlich! Fürwahr, er hat sich an alles erinnert! So ein zuvorkommender Mensch! Wer nimmt sich schon die Zeit, an jemanden wie mich einen Gedanken zu verschwenden, wenn er eigene Sorgen hat? Oh, das ist ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle, und drinnen auch,

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