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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Feuerstelle; Master Wengraves Knechte ließen sich auch beide trocknen und bemühten sich so zu tun, als lauschten sie nicht. Bruder Malachi hatte es sich auf dem einzigen Stuhl des Hauses mit einem großen Kissen gemütlich gemacht; Mutter Hilde und die kleine Bet saßen auf der Bank neben mir und zogen Apfelringe auf, während Ciarice zu ihrer Seite mit einem großen Korb neben sich auf dem Boden auf einem Schemel saß und ihre Flickarbeit beendete. In der Ecke, neben dem Holzstoß, säugte die Katze einen neuen Wurf Junge. Peter und Sim, die angeblich auf das Feuer unter einem neuen Experiment von Bruder Malachi aufpaßten, machten sich die Ablenkung zunutze, standen an der Tür und horchten. Kurzum, das kleine Zimmer, welches Hilde und Malachi ihre ›Diele‹ hießen, war gerammelt voll und roch nach feuchter Wolle und Kohlsuppe, wie gewöhnlich bei schlechtem Wetter.
    Bruder Malachi hatte selbst soviel gute Neuigkeiten, daß ihm das Zuhören schwerfiel. Sein Gesicht strahlte rosig und rund vor Zufriedenheit, doch irgendwie schaffte er es, daß es bei meinen Worten lang und betrübt wirkte.
    »Margaret, wieviele Male habe ich dir bereits gesagt, daß alles seine zwei Seiten hat? Ich entsinne mich noch, wie du auf genau jenem Fleck gesessen und geweint hast, weil der Bischof dich arbeitslos gemacht hatte. Und was geschah dann? Ei, der reichste alte Mann der ganzen Stadt machte dir einen Heiratsantrag und verschaffte dir eine Dauerstellung als Heilerin seiner Gicht. Da hast du es? Zwei Seiten! Das Unglück hat auch seine guten Seiten, man muß sie nur zu finden wissen.«
    »Aber, Bruder Malachi, was ist, wenn nun in allem Guten auch etwas Unglück ist? So hat auch das seine zwei Seiten.« Bruder Malachis Miene bewölkte sich kurz, doch dann hellte sie sich wieder auf.
    »Das ist einfach nicht möglich – denn alles Unglück hat wiederum sein Gutes. Du siehst also, man muß das Unglück einfach als Glücksfall betrachten. Und wo wären wir allesamt ohne die Glücksfälle des Lebens? Darum wird die Welt ja auch immer vollkommener.«
    Mutter Hilde seufzte vor Freude. »Oh, Malachi, ich werde nie müde, dir beim Philosophieren zuzuhören. Habe ich ein Glück, daß ich mit dem klügsten Mann auf der ganzen Welt leben darf!« Sie ließ von ihrer Arbeit ab, stand auf und legte noch ein Holzscheit auf das Feuer unter dem Kochtopf, während Malachi unbefangen gestikulierte und seine Theorie weiter ausführte. Und während er das Gute und das Üble erläuterte und sich zu immer höheren Ebenen emporschwang, hob er auch die Arme immer höher, und seine Miene wurde immer heiterer. An der Stelle, wo er zwischen seinem bequemen Sitzplatz und Aufstehen wählen mußte, denn nur so konnte er die Hände für die weitere Veranschaulichung seiner Theorie von der Vervollkommnung der Welt richtig einsetzen, da zögerte er kurz. Er kam nur einen Zentimeter hoch, entschied sich jedoch für die Bequemlichkeit, wackelte mit den Fingern in Richtung der strahlenden Sternenkonstellationen zwischen den leuchtenden, rotbemalten Balken der niedrigen Decke, um uns unendliche Größe anschaulich zu machen, und fügte dann ein ›Und so weiter, und so fort‹ an, das seinen Diskurs beschloß, und ließ sich zufrieden auf den Stuhl zurückplumpsen, welcher genau unter dem Großen Bären stand. Das auffällige Rot und Azurblau und die nicht hierher passenden gemalten Sterne, die eher für eine Kapelle oder das Schlafgemach eines Edelmanns geeignet waren, gaben dem Zimmer ein überaus fröhliches und seltsames Aussehen und glichen darin Bruder Malachi selbst.
    »Leider bin ich zu beschränkt für Eure Theorie, Bruder Malachi. Ideen, nur Ideen, und nichts davon anschaulich. Böses, das sich in Gutes verkehrt und dabei die Welt vervollkommnet – das ist mir zu hoch«, sagte ich.
    »Dann nimm beispielsweise mich. Ich habe unterwegs geschwitzt und gelitten, um auf ehrliche Weise Geld zu verdienen. Der Maulesel hatte einen Stein im Huf, meine Füße waren wund, und Sim fing an zu fiebern. Da hast du das Böse. Das Gute: Wir waren in der Nähe von Southampton, wo mein alter Freund Thomas, der Apotheker, einer aus dem kleinen Kreis der wahren Philosophen und Sucher, mir noch Geld schuldete – wir würden also bei ihm unterkriechen. Ausgezeichnet! Wir kamen in sein Haus – alles in Trauer. Er war gestorben. Eine Tragödie. Und schlimmer noch, man hatte seine ganzen Gerätschaften verkauft, um seine Schulden zu begleichen. Keine Spur seiner Arbeit war

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